Bildquelle: Youtube Kanal der Tagesschau, Beitrag vom 12.04.2020
Autor: Jacob Levich
Anmerkung Bastian Barucker: Bei meiner Recherche bzgl. der Corona-Pandemie stieß ich schon früh auf die Fragestellung, inwiefern die Einflussnahme von Stiftungen und Pharmaunternehmen auf Regulierungsbehörden und Politik ein wichtiger Bestandteil des aktuellen Geschehens sein können. Spätestens seit dem Auftritt von Bill Gates bei den Tagesthemen im April 2020, in dem er verkündete, dass „sie“ die ganze Weltbevölkerung impfen werden, stand die Bill & Melinda Gates Stiftung (BMGF) im Fokus der Maßnahmenkritiker. Da die aktuelle Corona-Debatte teilweise sehr geladen ist und es einen echten Informationskrieg gibt, war ich froh das Kapitel eines Buches zum Thema BMGF zu finden, welches einige Jahre vor Corona veröffentlicht wurde. Routledges Handbuch zur Politik der globalen Gesundheit wurde im Dezember 2018 veröffentlicht und beinhaltet ein Kapitel des Autors Jacob Levich, welches sich ausschließlich mit der Bill & Melinda Gates Stiftung beschäftigt. Im Dienste der Aufklärung und der Spurensuche nach den Gründen der aktuellen Krise der öffentlichen Gesundheit ließ ich dieses Kapitel übersetzen und freue mich, es veröffentlichen zu dürfen. Am Ende des Textes finden Sie weitere Quellen, die vor allem die aktuellen Zusammenhänge sehr gut darlegen.
„Neuere Kritiken der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) räumen – in unterschiedlichem Umfang – die schädliche Wirkung des „Philanthrokapitalismus“ auf die Gesundheit der Menschen ein. [4],[46] Doch diese Wirkungen werden in aller Regel als unbeabsichtigte Folgen fehlgeleiteter Mildtätigkeit dargestellt. Es wird unterstellt, die Multimilliardäre meinten es gut, seien aber irgendwie zu naiv, die notwendige Begrenztheit marktorientierter Antworten auf Gesundheitskrisen zu erkennen.
Realistischer aber wäre es, davon auszugehen, dass Bill Gates und seinesgleichen geschickte Investoren sind, die genau wissen, was sie wollen und wie sie es am besten bekommen können. Es ist fraglos richtig, darauf hinzuweisen, dass die Gates-Stiftung nie die von ihr versprochenen Wunder vollbracht hat. Doch möglicherweise geht eine solche Argumentation am Wesentlichen vorbei. Die Rettung von Menschenleben ist, wenn überhaupt, für die BMGF nur von sekundärer Bedeutung; sie hatte sich in erster Linie der weltweiten Expansion von Märkten und der Förderung der Geschäfte des westlichen Kapitalismus verschrieben. Das Bekenntnis der Stiftung zu den Praktiken und Organisationsnormen des Kapitalismus der Großkonzerne ist weder zufällig noch fehlgeleitet, sondern von zentraler Bedeutung für eine bewusste Strategie der „disruptiven Innovation“ auf dem Feld des Gesundheitswesens.
Seinen Einzug in die Managementtheorie hielt dieses Konzept in den späten 1990er Jahren, als sich das weltweite Kapital nach dem Untergang der Sowjetunion anschickte, alte Monopole zu zerschlagen, um Platz für neue zu schaffen. [44] Der Ausdruck schmeichelt Unternehmern, denn er lässt an kühne, originelle Ideen denken, beschreibt aber in Wahrheit einen Prozess, der so alt ist, wie der Kapitalismus selbst: nämlich die mehr oder minder skrupellose Umstrukturierung existierender Systeme und Normen, damit noch profitablere an ihre Stelle treten können.
Zunächst nur auf Startups der High-Tech-Branche bezogen, wurde der Begriff bald zentraler Baustein der Wirtschaftsideologie und wird mittlerweile auf neoliberale „Reformen“ in jedem Sektor angewandt: den durch Automatisierung und digitales Outsourcing ermöglichten Abbau von Arbeitsplätzen, die Unterdrückung gewerkschaftlicher Arbeit, die Privatisierung öffentlicher Schulen, die Ersetzung des Anspruchs auf Gesundheitsversorgung durch einen Markt privater Krankenversicherungen usw. Frisch gebackene Philanthrokapitalisten hatten eine natürliche Neigung, ihren karitativen Unternehmungen ihnen vertraute Geschäftspraktiken zu verordnen; so wurde „Disruption“ auch im ganzen Stiftungswesen zu einer Parole und einem Leitprinzip. Bill Gates, der durch berüchtigte wettbewerbsschädigende Geschäftspraktiken zum reichsten Mann der Welt geworden war [31], bot das weltweite Gesundheitswesen ein Laboratorium für weitere Experimente mit disruptiven Strategien.
Impfstoffe und die Pharmaindustrie
Der für die BMGF typische Disruptionsstil zeigt sich nirgendwo deutlicher als auf dem Gebiet der Impfstoffe, denen Bill Gates’ besonderes Augenmerk gilt und die historisch das Hauptgeschäft seiner Stiftung darstellen. Als Seth Berkeley, der CEO des von Gates kontrollierten Impfkonsortiums GAVI, eine Konferenz von Pharmaunternehmern wissen ließ, dass „GAVI ein disruptives Instrument ist“, betete er nicht nur ein modisches Managementschlagwort nach. Vielmehr beschrieb er in einem seltenen Augenblick der Offenheit das wahre Geschäft der Gates-Stiftung. Traditionelle Systeme der Impfstoffbeschaffung und –verteilung weichen derzeit in rasantem Tempo enormen großen öffentlich–privaten Lieferstrukturen, die von der Gates-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie gesteuert und in beträchtlichem Umfang finanziert werden. [27]
Die Symbiose des mächtigsten karitativen Unternehmens der Welt mit einer Industrie, die für ihren Zynismus und ihre Kriminalität berüchtigt ist, ergibt sich aus den besonderen Zwängen, denen Pharmakapital ausgesetzt ist. Trotz jährlicher Einnahmen von annähernd 1 Billion US-Dollar, gelingt es der Industrie nicht, das Absinken der Profitrate anzuhalten, und sie befindet sich daher ständig in der Krise. Die Suche nach Profit verheißenden, neuen Wirkstoffen wird immer fieberhafter und teurer. [57] Reklamekosten schießen unterdessen in die Höhe, da die Industrie versucht, möglichst hohe Einnahmen mit Kunden zu machen, die misstrauisch und knapp bei Kasse sind. [22]
Die Presseabteilungen der Industrie schildern gerne ihr Geschäft als ein großherziges Streben, den unstillbaren Bedarf der Gesellschaft nach neuen Heilmitteln zu befriedigen. Tatsächlich aber erzeugt und formt Big Pharma den Bedarf, nicht umgekehrt. Seinem Wesen nach steht das Geschäft mit Medikamenten, wie jede andere Industrie im Kapitalismus, unter dem Imperativ, Mehrwert profitabel einzusetzen: „Damit ihr Ausstoß absorbiert und brachliegende Kapazitäten vermieden werden, muss die Industrie fortwährend nach neuen Märkten suchen, die ausgeschöpft werden können…“. [74]
Wegen ungewöhnlich hoher Entwicklungskosten und eines schmalen Zeitfensters für Patente ist der Druck der Marktverhältnisse im Pharmageschäft besonders empfindlich zu spüren. Pharmazeutische Unternehmen setzen auf die hohen Einnahmen aus „Kassenschlagern“ (also Medikamenten mit Verkaufseinnahmen von jährlich einer Milliarde US-Dollar oder mehr), um Aktienpreise in die Höhe zu treiben und mitunter verblüffende Gewinnspannen zu erzielen. [3] Allerdings gewährt das Patentrecht in den USA und in der EU pharmazeutischen Unternehmen die exklusiven Rechte an einem Medikament nur für einen Zeitraum von 20 Jahren. Folglich muss Big Pharma extrem aggressive Maßnahmen zur Maximierung von Profiten ergreifen, wenn die sogenannte „Patentklippe“ näher rückt. Der eigentliche Markt für neu entwickelte Medikamente – d.h. die Menschen, die tatsächlich an den Krankheiten leiden, die mit den Medikamenten behandelt werden sollen – ist schnell gesättigt. Es müssen also neue Käufer gefunden oder produziert werden. So entstehen Anzeigekampagnen für viele Millionen Dollar, um die Werbetrommel für Medikamente zur Behandlung fragwürdiger Leiden wie „Restless Legs-Syndrom“ oder „weibliche sexuelle Dysfunktion“ zu rühren. [1] Ärzte werden zum Ausstellen von Off-Label-Rezepten gedrängt, also dazu Mittel gegen Leiden zu zu verschreiben, gegen die sie nicht zugelassen sind. [65] Ergänzt werden diese ethisch fragwürdigen, aber juristisch legalen Taktiken durch eine Vielzahl krimineller Machenschaften, wie die Fälschung der Ergebnisse klinischer Studien, die Unterdrückung von Informationen über Nebenwirkungen oder die Zahlung von Provisionen an Heilberufler. [35],[63] Diese Praktiken sind in der Branche so weit verbreitet, dass massive Strafgelder lediglich als „laufende Geschäftskosten“ betrachtet werden. [69]
Doch Big Pharmas wohlverdienter schlechter Ruf ist nicht abnormer Ruchlosigkeit seiner Manager und Aktionäre geschuldet. Vielmehr ist er das logische Ergebnis von Imperativen, die alle Bereiche der pharmazeutischen Industrie durchdringen:
- Für zugelassene „Kassenschlager“ müssen möglichst große Märkte erschlossen, ausgeweitet und rücksichtslos ausgebeutet werden. Wenn es keinen Markt gibt, so muss ein Markt – noch besser viele Märkte – geschaffen werden.
- Die Jagd nach neuen Kassenschlagern hört nie auf und ist voller Risiken. Faktoren, die eine rasche Kommerzialisierung neuer Medikamente behindern – wie etwa Auflagen zur Überprüfung ihrer Sicherheit oder nationale Regulierungen –, müssen günstiger gestaltet, untergraben oder umgangen werden.
- Die beträchtlichen Investitionen, die nötig sind, um ein Medikament auf den Markt zu bringen – wie Forschung und Entwicklung, Sicherheitstests und Vermarktung – müssen reduziert oder abgewälzt werden, wo immer das möglich ist. Subventionen aus öffentlicher Hand oder von privaten Stiftungen zur Unterstützung hoher Verkaufspreise müssen mit Nachdruck eingeworben werden.
- Investitionen müssen Produkten gelten, die – wie Impfstoffe – weltweite Märkte adressieren, und gleichzeitig ein attraktives Risiko-Ertrags-Verhältnis versprechen. Ein Medikament von fragwürdiger Wirksamkeit, das auf eine große Bevölkerung zielt, kann profitabler sein, als ein hoch wirksames Mittel, mit dem eine seltene Krankheit behandelt wird.
Diese Umstände haben gravierende Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlergehen von Milliarden von Menschen untern den Ärmsten der Welt. Immer mehr sucht Big Pharma rückläufige Einnahmen in reichen Westlichen Ländern durch die Ausbeutung weitgehend unerschlossener „Pharmaschwellenländer“ auszugleichen. [61] 70 % der Weltbevölkerung leben in solchen Ländern – folglich ist das Profitpotential enorm.
Die wachsende Zahl kranker Menschen im Süden bietet ein beispielloses Betätigungsfeld, um vermeintlich wirksame Medikamente zu verkaufen; Impfstoffe hingegen sind eine vielversprechende Einnahmequelle, da sie an eine riesige Zahl Gesunder verkauft werden können. Die Anpassung nationaler Impfprogramme kann die Zielbevölkerung für patentierte Impfstoffe um Hunderte Millionen von Menschen vergrößern. Es ist also kein Wunder, dass Schwellenländer als „die nächste große Wachstumsmaschine der Pharmaindustrie“ [50] gelten.
Aus diesen Gründen ist die Erzeugung neuer Nachfragekanäle in armen Ländern absolut notwendig fürs Geschäft. Zugangshemmnisse – wie Preiskontrollen, gesetzliche Auflagen, fehlende Infrastrukturen im Gesundheitswesen – müssen mit Hilfe innovativer Strategien umgangen werden. Die umfassende Zusammenarbeit mit westlichen NGOs, öffentlich-privaten Partnerschaften, Stiftungen und privaten Unternehmen gilt als entscheidend für die Überwindung dieser Hindernisse, und das sowohl in „hochrangigen“ Märkten (wie den BRICS-Staaten) als auch in den ärmsten Ländern des globalen Südens. [6],[45] Daher die Notwendigkeit „disruptiver Innovation“: vorhandene Mechanismen der Gesundheitsversorgung müssen umgewandelt oder sogar zerstört werden, um Platz zu schaffen für eine gewinnorientierte Wertschöpfungskette.
Auch in anderer Hinsicht spielen die Menschen des Südens in den Geschäftsstrategien von Big Pharma eine wichtige Rolle. Kostensenkung in der Entwicklung gilt als eine Antwort auf rückläufige Erträge; ein effektiver Behelf hierzu ist die Verlagerung an billigere Standorte. Folglich werden klinische Studien in Schwellenländer verlegt, von denen ausgegangen wird, dass dort die Überprüfung der Arzneimittelsicherheit relativ billig, zeitsparend und weniger streng durchgeführt wird. Der Vorstandvorsitzende von GlaxoSmithKline Jean-Pierre Garnier hat dies freimütig als ein „massives Arbitragegeschäft“ charakterisiert, das die Globalisierung ermöglicht: also die „Ausnutzung der Unterschiede bei den Arbeits- und den finanziellen Kosten, aber auch in der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und bei den regulatorischen und administrativen Hindernissen“. [56, S.82]
Wie die Anthropologin Adriana Petryna ausführt, „ändert sich die Geographie klinischer Versuche dramatisch. Im Jahr 2005 wurden 40 Prozent aller klinischen Studien in Schwellenländern durchgeführt, 1991 waren es noch 10 Prozent.“ [56, S.13] Im Jahr 2011 waren über 150.000 Menschen in Indien an mindestens 1.600 klinischen Studien beteiligt, die für britische, amerikanische und europäische Firmen durchgeführt wurden. [16] Diese Form der Verlagerung von Forschung und Entwicklung ins Ausland ist mittlerweile im globalen Süden so weit verbreitet, dass klinische Studien als „normaler Teil der Gesundheitsversorgung“ [55] angesehen werden. Eine südafrikanische Zeitung befand: „Wir sind die Versuchskaninchen der Arzneimittelindustrie.“ [19]
So haben die Imperative des Pharmageschäfts eine Gemengelage erzeugt, in deren Mittelpunkt die Menschen des Südens stehen. Dies ist der Kontext, in dem die Interventionen der BMGF für die Industrie von entscheidender Bedeutung sind. Mit ihrer weltweiten Organisation, ihren Ressourcen und ihrer schieren Macht ist die BMGF in einer idealen Position, um gewinnbringende Verbindungen zwischen Big Pharma, der globalen Gesundheitsbürokratie und nationalen Gesundheitsministerien herzustellen. Sie fungiert als entscheidendes Bindeglied in einer pharmazeutischen Wertschöpfungskette, die sich von der 500 Millionen US-Dollar teuren Stiftungszentrale in Seattle bis in die ärmsten Dörfer Afrikas und Südasiens erstreckt.
Die Gates-Stiftung betritt die Bühne
Die Verbindungen der Gates-Stiftung zur Pharmaindustrie sind eng, verwickelt und bestehen schon seit langem. Schon bald nach ihrer Gründung investierte die BMGF 205 Millionen US-Dollar in pharmazeutische Unternehmen wie Merck & Co., Pfizer Inc., Johnson & Johnson und GlaxoSmithKline. [20] In späteren Jahren hat sich die Verbindung vertieft, und es wurde eine Drehtür geschaffen, die mittlerweile regelmäßig Manager zwischen der BMGF, den von Gates kontrollierten NGOs und den Big Five der Pharmaindustrie hin und her wechseln lässt. [36] Dem Leitungsgremium der „Global Health Division“ der BMGF gehören ehemalige Manager von AstraZeneca, Baxter International Healthcare Corp., Eli-Lilly, Novartis, Parke-Davis, Pfizer und Wyeth an. [12] Die NGO PATH, von der The Lancet gesagt hat, sie sei praktisch „ein Agent der Stiftung“, [33, S.21] arbeitet offen als Vermittler für über 60 Partnerkonzerne und generiert „marktbasierte Lösungen“ für Pharmaunternehmen wie Merck und Sanofi.
Es ist also kaum überraschend, dass die BMGF sich in ihren Zielen eng an den Bedürfnissen der pharmazeutischen Industrie orientiert. Die Stiftung hat sich offen Strategien in Forschung und Entwicklung verschrieben, die auf die Realitäten von Entwicklungsländern setzen, in denen „wir die Umsetzung wissenschaftlicher Entdeckungen in umsetzbare Lösungen beschleunigen und nach besseren Wegen suchen, mögliche Interventionen, z.B. neue Impfstoffe, zu evaluieren und zu verbessern, bevor sie in kostspieligen und zeitaufwendigen klinischen Studien untersucht werden“. [10] Im Klartext heißt das: die BMGF verspricht, Big Pharma dabei zu helfen, westliche Regulierungen zu umgehen, indem sie Billigstudien zu Medikamenten in der Peripherie fördert. Gleichzeitig lenkt die BMGF Mittel souveräner Staaten in Investitionen, die Märkte für westliche transnationale Konzerne schaffen, auch wenn das nur durch eine radikale Umschichtung von Ressourcen zulasten traditioneller Gesundheitsprogramme möglich ist. Das Ziel besteht, wie es ein Bericht der amerikanischen Behörde für Entwicklungshilfe USAID offen ausspricht, darin, „Marktakteure und -dynamiken wirksam zu nutzen, um die Nachfrage zu stimulieren“. [70]
Die BMGF betrat 1999 die Szene mit einer Spende von 50 Millionen US-Dollar zur Gründung der Malaria Vaccine Initiative. Bill Gates erkannte hier eine Gelegenheit für seine frisch gebackene Stiftung, ein ganzes Feld karitativer Tätigkeit mit einem Schlag und entscheidend zu dominieren: „Mit einer einzigen Spende […] wurden wir zum wichtigsten privaten Geldgeber der Malariaforschung. Es ist einfach überwältigend.“ [66] Seither hat das Wirken der Gates-Stiftung die Produktion und Bereitstellung von Impfstoffen umgewälzt und private Konzerne und Kapitalanlagen in ein Feld eingeführt, auf dem bis vor gar nicht allzu langer Zeit Profitmotive eine relativ untergeordnete Rolle gespielt haben.
Staatliche Impfprogramme haben im 20. Jahrhundert einen starken Aufschwung erlebt und zweifellos Millionen von Menschenleben gerettet, besonders in Ländern, denen es gelang, Impfungen in robuste Gesundheitsprogramme zu integrieren. In dieser Zeit wurden Impfstoffe für die pharmazeutische Industrie zu einer kontinuierlichen Einnahmequelle, wenn auch mit geringen Profitmargen. Die wichtigsten Impfstoffe waren nicht patentiert: als Jonas Salk gefragt wurde, wem die Patente für seinen Polio-Impfstoff gehörten, hatte er erwidert: „Den Menschen. Es gibt kein Patent. Können Sie denn die Sonne patentieren?“ [38] Auch wenn die Sprecher von Big Pharma gerne die Lorbeeren für Immunisierungserfolge einheimsten, waren Impfstoffe faktisch eine „kaum beachtete Nische im Arzneimittegeschäft“; [68] die Rolle der Industrie beschränkte sich auf die Herstellung von Impfdosen und den Verkauf auf einem von staatlichen Beschaffungsprogrammen bestimmten Markt, die die Preise tendenziell niedrig hielten. Die Gewinnspannen waren so gering, dass viele Unternehmen um die Mitte des ersten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert schon daran dachten, diesen Geschäftszweig komplett aufzugeben. [68]
Länder der nicht-sozialistischen Peripherie konnten indessen die Immunisierungserfolge der Ersten und Zweiten Welt kaum oder gar nicht nachahmen. Nach dem 2. Weltkrieg hatten sich hier und da im globalen Süden beschränkte nationale Impfprogramme entwickelt. Sie waren auf die finanzielle und technische Unterstützung von UNO-Institutionen angewiesen und hatten massiv unter dem Mangel an Ressourcen und Infrastruktur gelitten. [48] Vom Westen nach dem Niedergang des Sozialismus erzwungene Austeritätsregime verwüsteten zusätzlich die Strukturen im Gesundheitswesen, die für eine effektive Verteilung von Impfstoffen erforderlich sind. In der Sprache des Geschäfts hieß dies: der adressierbare Markt war nach wie vor immens, doch die Lieferketten funktionierten nicht, und die Käuferschaft war klein, konzentriert und verlor zusehends an Kaufkraft. In den späten 1990er Jahren war Geld für die Beschaffung knapp oder nicht aufzutreiben, und für westliche Pharmaunternehmen bestanden kaum Gewinnanreize in armen Ländern.
Dieses triste Geschäftsumfeld änderte sich grundlegend mit dem Eingreifen der Gates-Stiftung. In enger Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie sprengten und revitalisierten die BMGF und ihre Tochterorganisationen das Geschäft mit neuartigen Strategien für das Eindringen in Schwellenländer. Ein Jahrzehnt nach den ersten Investitionen der Stiftung waren Impfstoffe nicht mehr eine vernachlässigbare Nische, sondern zum Eckpfeiler der üppigen Gewinne von Big Pharma geworden – tatsächlich wurde unlängst für den globalen Impfstoffmarkt bis zum Jahr 2024 ein Anwachsen auf 77,5 Milliarden US-Dollar prognostiziert. [34] In einer Lobeshymne auf die Impfstrategien „eines der größten Wirtschaftsvisionäre der Geschichte“ pries Forbes Bill Gates für seine Demonstration, „wie mit Macht und Kapital – im wörtlichen wie im politischen Sinne – die positive Wirkung für die Welt maximiert werden kann.“ Dies habe er getan, konzedierte der Artikel in etwas weniger schwülstiger Sprache, indem er „einen dauerhaften Markt für Big Pharma geschaffen“ habe, „der [die Unternehmen] nicht das letzte Hemd kostet“. [37]
Die BMGF steht auf dem Grundsatz, dass karitative Unternehmen weitgehend an denselben Kriterien zu messen sind wie andere Geschäfte. [13] Impfstoffe böten eine unwiderstehliche Gelegenheit, „die Bedürfnisse der Armen in einer Weise zu befriedigen, die der Wirtschaft Profit und Anerkennung bringt“ (Gates [26]), indem von Microsoft und der Wall Street übernommene kommerzielle Strategien zum Einsatz kommen. Diese lassen sich am besten in der Sprache der Unternehmenstheorie zusammenfassen, die zu der Ideologie gehört, die das Denken heutiger Kapitalisten strukturiert:
- Pioniervorteil: Als erster bedeutender Akteur in einem vernachlässigten Marktsegment würde die BMGF die Geschäftsbedingungen festlegen können, die spätere Player zu befolgen hätten, und damit ihre dauerhafte Vorherrschaft auf dem Gebiet sichern.
- Vertikale Vermarktung: Probleme, die vermittels „vertikaler“ Gesundheitsinitiativen (also Programmen, die nur einer bestimmten Erkrankung gelten und nicht einen breiten gesundheitlichen Ansatz verfolgen) angegangen werden können, ließen sich einfach an die vertikalen Vermarktungsstrategien von Microsoft anpassen und kämen der Vorliebe der Stiftung für schnelle, einfach zu messende Lösungen (anstelle von Investitionen in Infrastrukturen) entgegen.
- Leichte Messbarkeit: Durch die Anwendung simpler Wirtschaftsmathematik, in der Gates die Lösung der Gebrechen der Gesellschaft sieht, könne ein Feld, für das traditionell staatliche Behörden verantwortlich sind, durch das vermeintlich überlegene Wissen des privaten Sektors effektiver gemanagt werden. Bedingt durch ihren engen Rahmen und ihre engen Ziele, eigneten sich vertikale Programme auf natürliche Weise für eine numerische Datenanalyse mit dem Ziel, „knappe Ressourcen für den größtmöglichen Impact zu optimieren“. (BMGF [11])
- „Value Unlocking“ [frei übersetzt: „optimierte Kapitalverwertung“]: Eine partielle Privatisierung von Impfprogrammen habe das Potential, den Wert von Kapital in öffentlicher Hand zu optimieren und für ärmere Länder einen wirtschaftlichen Nutzen von 100 Milliarden US-Dollar zu erbringen. [43] Gleichzeitig könnten neue Formen der Finanzierung von Entwicklungshilfe, die sich das Profitinteresse zunutze machten, als Mittel zur optimierten Kapitalverwertung auf privaten Märkten beworben werden.
- Hebelung: Bereits bestehende, aber unterfinanzierte und schwache institutionelle Strukturen (z.B. die Impfprogramme der WHO oder staatliche Gesundheitsministerien) ließen sich durch wenige strategische Investitionen leicht unter Kontrolle bringen. Im Zusammenwirken mit von der BMGF initiierten und letztlich von ihr kontrollierten öffentlich–privaten Partnerschaften könne die Stiftung enorme Mittel mit vergleichsweise geringem Eigeneinsatz bewegen.
Alles in allem fand Bill Gates im Impfstoffmarkt Bedingungen vor, die ihm die komplette Aneignung eines Schlüsselsektors des Gesundheitswesens ermöglichten. Beinahe über Nacht wurde die BMGF zum Urheber und zur maßgeblichen Instanz weltweiter Impfmaßnahmen und sorgte dafür, dass Entscheidungen, die das Leben und die Gesundheit der Entwicklungsländer betreffen, zentral in Seattle getroffen werden. Für Melinda Gates, die Partnerin ihres Ehemannes in allen mildtätigen Dingen, war die Frage einfach: „An welcher Stelle kannst du mit deinem Geld die größte Wirkung erzielen?“ [37]
GAVI
Der Raubzug der BMGF auf dem Feld der Immunisierung begann mit der Gründung von GAVI, der „Global Alliance for Vaccines and Immunization“ [inzwischen umbenannt in: „Gavi – The Vaccine Alliance“], die vielleicht die einflussreichste „öffentlich–private Partnerschaft“ im Gesundheitswesen ist. GAVI wurde im Jahr 2000 mit dem „ausdrücklichen Ziel“ ins Leben gerufen, „die Impfstoffmärkte zu gestalten“. (GAVI Alliance [30]) Das Konsortium verbindet wichtige internationale Institutionen (WHO, UNICEF, die Weltbank) mit den Großen der Pharmaindustrie (Janssen, GlaxoSmithKline, Merck, Sanofi Pasteur, Pfizer und andere) – das alles unter Vermittlung und Steuerung durch die Gates-Stiftung.
GAVI verschaffte Gates den nötigen Einfluss, um in globale Politik lenkend eingreifen zu können. Die BMGF legte den Grundstein für die Organisation, hält einen permanenten Sitz in ihrem Vorstand und hat bislang mit über 4 Milliarden US-Dollar ihre Arbeit finanziert. [29] Eindringlich als „900-Pfund-schwerer Gorilla“ beschrieben, [42] bestimmt GAVI die Agenda aller Akteure auf dem Feld der Impfstoffe: ihre Zustimmung ist eine notwendige und zugleich hinreichende Bedingung für die Einführung von Impfinitiativen.
Von Anfang an hat GAVI versprochen: (a) die Einführung neuer Impfstoffe zu beschleunigen, (b) den Einsatz „vorhandener kostengünstiger Impfstoffe“ auszuweiten, und (c) die Forschung und Entwicklung neuer, „für Entwicklungsländer relevanter“ Impfstoffe zu forcieren. [9] Bezeichnend ist allerdings, dass aus GAVI-Mitteln selten in Ländern des globalen Südens Impfprogramme – wie gegen Diphtherie, Mumps, Keuchhusten, Tetanus und andere – unterstützt wurden, die traditionell für westliche Kinder als notwendig gelten.1 Stattdessen hat GAVI durchweg genau jene neuen und teuren „Blockbuster-Impfstoffe“ gefördert, die die Profitmargen von Big Pharma aufbessern. Die frühen Investitionen flossen größtenteils in die Impfung gegen Pneumokokken (mit einem von Pfizer entwickelten Impfstoff), Hepatitis B (GlaxoSmithKline und Merck) und gegen den eine grippeähnliche Erkrankung verursachenden Haemophilus influenzae b [Hib] (Merck und Sanofi). Bis 2012 hatte GAVI vier der fünf am besten verkauften Impfstoffe – „Prevnar-13“ von Pfizer, „PENTAct-HIB“ von Sanofi, „Cervarix“ von GSK sowie den Hepatitis-Impfstoff von GSK – massiv subventioniert und gefördert. [25]
Im Jahr 2009 bahnte GAVI einem neuen Modell der Entwicklungsfinanzierung den Weg: das Advance Market Commitment (AMC) sollte dazu dienen, den Verkauf von Pfizers neuem Pneumokokken-Impfstoff „Prevnar“ an arme Länder zu subventionieren. [28] Über GAVI boten die BMGF und fünf reiche Länder – Italien, Großbritannien, Kanada, Norwegen und Russland – einen Vertrag an, der dem Medikament einen rentablen Markt garantierte und mit der Verpflichtung einherging neue Impfstoffe zu einem hohen ausgehandelten Preis zu kaufen, der angeblich die Entwicklungskosten deckte. Als erstes Land wurde Ruanda ausgeraubt, das mit einem Schlag in einen Markt für 1,6 Millionen Dosen des patentierten Impfstoffs verwandelt wurde. [60] Teil der Vereinbarung war Ruandas Verpflichtung, „Prevnar“ in sein reguläres staatliches Impfprogramm aufzunehmen, obwohl nicht geklärt war, wie das Land die späteren Impfdosen finanzieren sollte, wenn die Subventionierung durch GAVI auslaufen würde. Wenig später wurden Benin, die Zentralafrikanische Republik und Kamerun angeworben, wodurch sich der Markt um einige Millionen Dosen erweiterte. Die Finanzierung mit Hilfe von AMCs erwies sich als so lukrativ, dass „Prevnar“ im Jahr 2012 das weltweit führende Impferzeugnis geworden war, mit einem geschätzten Umsatz bis zum Jahr 2018 von 6,7 Milliarden US-Dollar. [25] Unterdessen hatte GAVI die „Machbarkeit“ eines ausgeklügelten neoliberalen Konzepts nachgewiesen, mit dem sich öffentliche Mittel in private Kassen verschieben ließen.
Eine spätere Neuerung in GAVIs Katalog von Dienstleistungen ist die „innovative Entwicklungsfinanzierung“, ein schuldenfinanzierter Mechanismus, bei dem die Kapitalmärkte zur Subventionierung von Impfstoffkäufern und –herstellern angezapft werden. Vermittelt durch die zu diesem Zweck geschaffene „International Finance Facility for Immunisation“ (IFFIm), bringt GAVI Anleihepapiere auf dem japanischen Uridashi-Markt in Umlauf. Diese Anleihen werden durch das Versprechen von staatlichen Geldgebern abgesichert, Millionen von Impfdosen zu einem festgesetzten Preis über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren abzunehmen. Das System wird in Entwicklungskreisen als neoliberales „Win-Win“-Modell gepriesen: zwar kämen Investoren auf jeder Stufe der Verwertungskette auf ihre Kosten, aber auch arme Länder würden durch den Zugang zu sonst unerschwinglichen Impfstoffen profitieren. Die Inhaber der Papiere erhalten eine garantierte, steuerfreie Rendite, die in einer Zeit extrem niedriger Zinsen sehr willkommen ist. GAVI bietet diese „Organisationsform ohne Länderpräsenz“ ein wirkungsvolles Instrument, Impfstoffmärkte in der Peripherie maßgeblich zu steuern und gleichzeitig die politischen Beschwerlichkeiten traditioneller Entwicklungshilfe zu umgehen. Infolgedessen trägt die IFFIm jährlich mittlerweile mit bis zu 39 Prozent zu GAVIs flüssigen Mitteln bei. [25]
Pharmaunternehmen können heute teure Impfstoffe zu subventionierten Preise in einem wenig zahlungskräftigen, aber riesigen und risikolosen Markt vertreiben: „durch die Schaffung eines berechenbaren Nachfragesogs, beseitigt die IFFIm ein wichtiges Expansionshemmnis für Immunisierungen: nämlich den Mangel an stabilen, berechenbaren und koordinierten Cashflows über einen längeren Zeitraum“. [5] GAVIs Rolle bei der Preisgebung für Impfstoffe wird zwar in der Regel für das vermeintliche Bemühen um Preisobergrenzen gepriesen, tatsächlich aber agiert die Organisation durchwegs zugunsten einer Anhebung der Mindestpreise.
Gelegentlich kritisiert, aber offensichtlich unaufhaltsam ist GAVIs Beitrag zur Verwischung der Grenzen zwischen privatem Geschäft und öffentlicher Politik. In einigen Fällen haben sich BMGF und GAVI die Gesundheitsministerien armer Länder regelrecht einverleibt. [32] Völlig ungeniert wirkt das Agieren der Organisation, das in den Augen einiger auf eine Wiederherstellung eines „pharmazeutischen Kolonialismus“ hinausläuft. So bot GAVI im Jahr 2002 Sri Lanka an, einen kostspieligen Impfstoff von Crucell, einer Tochter von Johnson & Johnson, zu subventionieren. Das als pentavalenter Hib-Impfstoff bekannte Mittel war ein Cocktail, der die traditionelle DTP-Impfung [gegen Diphtherie, Keuchhusten und Tetanus] um eine Immunisierung gegen Haemophilus influenzae b ergänzte; diese neue Mixtur machte das Medikament patentierbar und damit profitabel. Die Einwände von Kritikern, ein „neuer und ‚relativ nutzloser’ Impfstoff [werde] als Beiladung unentbehrlicher Standardimpfstoffe wie DPT“ vermarktet, blieben ungehört. [8]
Da der Verkaufspreis für den pentavalenten Hib-Impfstoff annähernd 20mal so hoch war wie die von ihm verdrängten Wirkstoffe, bot GAVI Sri Lanka eine vorübergehende Subventionierung an, so lange das Land bei seiner Zusage blieb, das Vakzin in sein nationales Impfprogramm aufzunehmen.
Innerhalb von drei Monaten nach der Einführung des Impfstoff wurden 24 unerwünschte Nebenwirkungen, darunter vier Todesfälle gemeldet, weshalb Sri Lanka den Einsatz des Impfstoffs aussetzte. [71] Etwas später starben in Indien 21 Säuglinge an den Nebenwirkungen. Kritiker wiesen darauf hin, dass Hib ein relativ geringes Gesundheitsproblem in Südasien darstelle und dass davon auszugehen sei, dass der Impfstoff pro 350 gerettete Menschenleben durch seine Nebenwirkungen 3.125 Todesfälle bei Kindern verursachen könne. [41] Folglich sei das Standardargument für neue Impfstoffe – dass die Zahl geretteter Menschenleben die Bedeutung einiger weniger impfbedingter Todesfälle bei weitem überwiegt – auf den Kopf gestellt. Dessen ungeachtet griff die WHO als Partner von GAVI unverzüglich ein und erklärte den Impfstoff für sicher – woraufhin Sri Lanka seine Aussetzung wieder aufhob. [52]
Nachdem der Pentavalent-Impfstoff in Sri Lankas staatlichem Impfprogramm fest etabliert war, begann GAVI seine finanzielle Unterstützung schrittweise zu beenden. GAVI sicherte sich also Sri Lankas verpflichtende Zusage, dauerhaft einen patentierten Impfstoff zu kaufen, mit dem Köder subventionierter Preise und hielt dann das Land mit einer ewigen Kaufverpflichtung an der Leine. Bei GAVI heißt dieses Vorgehen „Graduierung“. [59] In einem Bericht auf GAVIs offizieller Website tat der Gesundheitsminister von Sri Lanka Ananda Amarasinghe so, als enthülle er „die Geheimnisse der Erfolgsgeschichte [seines] Landes in Sachen Impfung“. Dort meinte er, die Kooperation mit GAVI sei deswegen erfolgreich gewesen, weil „unsere Kolonialherren [Hervorh. d. Verf.] ein gute Stiftung gegründet haben“. [24] Offenbar war das nicht ironisch gemeint.
PATH
GAVI sollte dazu dienen, die allgemeine Ausrichtung der globalen Impfpolitik zu steuern, doch die BMGF brauchte einen weiteren Ableger, der die Entwicklung neuer Impfstoffe auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette „von der ersten Entdeckung über klinische Studien bis hin zur Zulassung“ unterstützt. [15] Gates hielt sich an das Hebelungsprinzip und sah davon ab, aus dem Nichts eine neue Organisation zu schaffen. Stattdessen übernahm er eine bestehende. Dabei handelte es sich um die in Seattle angesiedelte NGO „Program for Appropriate Technology in Health“ (PATH), die sich dem Ziel der Bevölkerungskontrolle verschrieben hatte und mit der die Stiftung durch Gates’ Vater bereits verbunden war. Die BMGF überschüttete die Organisation mit Geld, setzte Vertreter im Verwaltungsrat ein und war bald in einer Position, dass mit Steve Davis ein ehemaliger Manager von Microsoft und Anwaltspartner von Bill Gates Sr. zum Vorstandsvorsitzenden berufen wurde. [7] Die Art, wie PATH von der BMGF für deren Zwecke umgemodelt wurde, glich dem, was man in der Geschäftswelt eine „freundliche Übernahme“ nennt.
PATH hörte zwar nicht auf, für Verhütungsmittel Reklame zu machen, doch schon bald bestand seine Hauptmission darin, die Entwicklung und den Vertrieb von Impfstoffen zu fördern. PATHs Tätigkeit am Anfang Wertschöpfungskette zielt darauf ab, der Pharmaindustrie Entwicklungskosten durch Forschungsförderung abzunehmen. Insbesondere arbeitet PATH darauf hin, Wissenschaftler aus dem nicht-kommerziellen Bereich mit Impfstoffherstellern und Biotech-Firmen in Kontakt zu bringen, um dafür zu sorgen, dass die öffentliche und die private Sphäre auf jeder Stufe miteinander verwoben sind. [54] Da sich in PATHs Förderpolitik die Ziele der BMGF und die kommerziellen Interessen von Big Pharma widerspiegeln, wird die akademische Forschung auf diese Weise unvermeidlich in Richtungen gelenkt, in denen die Industrie ein Profitpotential sieht, z.B. Rotavirus, Malaria, HIV/AIDS und Influenza. Manchmal arbeitet PATH auch mit Pharmaunternehmen aus den BRICS-Staaten zusammen, wie etwa dem Serum Institute of India, das dem Milliardär und „Impfstoffkönig“ Cyrus Poonawalla gehört. Die in diesem Kontext von PATH arrangierten Partnerschaften sollen sicherstellen, dass die Entwicklungstätigkeit lokaler Industrien nicht unabhängig von den Interessen des Pharmakapitals im Westen stattfindet.
PATH ist intensiv an der Organisation und Finanzierung von klinischen Studien beteiligt, die erforderlich sind, um Markenimpfstoffe auf den Markt zu bringen. Für das Management dieser Studien heuert PATH sogenannte Contract Research Organisations (CROs) an, die ihrerseits lokale Organisationen rekrutieren, um die Studien selbst vor Ort billig durchzuführen, so dass Lohndifferenzen zwischen dem globalen Zentrum und der Peripherie ausgenutzt werden können. In diesem taylorisierten Offshoring-System ist der Druck, schnell die gewünschten Ergebnisse zu erhalten, enorm und unethische Praktiken weit verbreitet. [23]
Eine Literaturübersicht enthüllt ein verstörendes Muster bei den von PATH finanzierten Studien, die fast ausnahmslos ethische Bedenken erregten, aber offenkundig stets die erwünschte Genehmigung sicherstellten. So organisierte PATH im Jahr 2010 eine Phase-III-Studie des von GlaxoSmithKline (GSK) entwickelten Malaria-Impfstoffs „Mosquirix“, bei dem in sieben afrikanischen Ländern der experimentelle Wirkstoff Tausenden von Kleinkindern verabreicht wurde. GSK und BMGF erklärten die Versuche zu einem durchschlagenden Erfolg, und diese Werbebotschaft wurde von der Publikumspresse unkritisch wiederholt. [14] Tatsächlich aber besaß der Impfstoff nur eine geringe Wirksamkeit und verringerte Malariaerkrankungen lediglich um 18 bis 36 Prozent. Im Kleingedruckten der Studie zeigte sich dabei, dass die Versuche 151 Todesfälle zur Folge gehabt und bei 1.049 von 5.949 Kindern im Alter von 5-17 Monaten „unerwünschte Nebenwirkungen“ (wie Paralyse, Krampfanfälle und Fieberkrämpfe) verursacht hatten. [58] Solche Befunde hätten eigentlich zur Frage führen müssen, ob der beschränkte Nutzen wirklich die gravierenden Risiken überwog. Stattdessen startete die WHO ein umfangreiches Pilotprogramm für Schwarzafrika und stellte die baldige weltweite Einführung des Impfstoffs in Aussicht. [72]
Andere von PATH unterstützte Impfstoffversuche im globale Süden offenbarten ein ähnliches Muster von fragwürdiger Wirksamkeit, unethischen Praktiken und zahlreichen Todesfällen und Impfschäden (so etwa im Falle des Rotavirus-Vakzins von GSK, das im Jahr 2011 in India getestet wurde, [17] oder des von der BMGF finanzierten und von MenAfriVac entwickelten Meningitis-Impfstoffs, der in den Jahren 2011 und 2012 im Tschad getestet wurde [67]). Auch in diesen Fällen hatte man sich die Genehmigung der zuständigen Gesundheitsministerien schnell gesichert.
In einem Aufsehen erregenden Fall jedoch scheint die öffentliche Empörung PATHs Pläne durchkreuzt zu haben. Im Jahr 2010 starben sieben heranwachsende Mädchen in den indischen Provinzen Gujarat und Andhra Pradesh, nachdem ihnen Impfstoffe gegen HPV (Humanes Papilloma-Virus) im Rahmen einer groß angelegten „Demonstrationsstudie“ injiziert worden waren, die die Gates-Stiftung finanziert und PATH organisiert hatte. [62] Etwa 23.000 Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren hatten die von GSK und Merck entwickelten Impfstoffe unter dem Vorwand erhalten, sie gegen Gebärmutterhalskrebs im vorgerückten Alter zu schützen.
Anhand von Extrapolationen aus den Versuchsdaten schätzten indische Ärzte später, dass mindestens 1.200 Mädchen infolge der Injektionen schwere Nebenwirkungen, darunter auch Autoimmunstörungen, erlitten hatten. [47] Es hatte bei den Opfern weder Kontrolluntersuchungen gegeben noch waren sie medizinisch versorgt worden. Wie spätere Ermittlungen zeigten, waren Verletzungen ethischer Normen allgegenwärtig gewesen: Mitarbeiter von PATH hatten wehrlose Mädchen vom Dorf praktisch zur Teilnahme an den Versuchen gezwungen und ihre Eltern mit Einschüchterungen und falschen Behauptungen über die Sicherheit und Wirksamkeit der Wirkstoffe zum Unterschreiben der Einverständniserklärungen genötigt. In vielen Fällen waren die Unterschriften schlicht gefälscht gewesen. [21]
Eine Kommission des indischen Parlaments kam zu dem Ergebnis, dass PATH „gegen sämtliche Gesetze und von der Regierung festgelegten Vorschriften für klinische Versuche“ in einem „eklatanten Fall von Menschenrechtensverletzung und Kindesmissbrauch“ verstoßen habe. [53] Doch in den Monaten nach der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts geschah nichts: die Regierung weigerte sich, seinen Empfehlungen zu folgen; eine Klage der Opfer vor dem Indischen Supreme Court blieb „in der Schwebe“. [49] Augenscheinlich völlig unbeeindruckt, machte sich PATH eilig an neue Versuche mit einem anderen HPV-Impfstoff, „Gardasil 9“ von Merck – mit den typischen späteren Klagen über Nötigung, fehlende informierte Zustimmung und Lähmungen als Impffolge. [18] Gleichzeitig wurden das nationale und die Gesundheitsministerien der indischen Bundesstaaten zunehmend von den Spitzen der internationalen Gesundheitsbürokratie unter Druck gesetzt, die HPV-Impfstoffe zu übernehmen. [51]
Die von PATH geförderte Impfstoffentwicklung gleicht einer Dampfwalze, die ungeachtet gefährlicher klinischer Versuche, unbefriedigender Ergebnisse und des Widerstands aus der Bevölkerung vorwärts rollt. Der Gesundheitsjournalist Sandhya Srinivasan meint: „Die Forschungsagenda von PATH besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Impfstoff in das nationale Impfprogramm aufgenommen wird. Die Frage ist nicht, ‚ob’, sondern nur ‚wann’ und ‚wie’.“ [64]
Der Kauf der WHO
Für eine Organisation mit der Macht der BMGF war es keine große Herausforderung, sich die Gesundheitsministerien armer Länder gefügig zu machen. Die Schaffung eines wirklich globalen Impfstoffmarkts erforderte dagegen Steuerung und Investitionen im internationalen Maßstab. Dazu bedurfte die BMGF der Mitarbeit der Weltgesundheitsorganisation. Die WHO ist bevollmächtigt, finanzielle Mittel bei den Mitgliedsstaaten der UNO zu einzutreiben und über deren Verwendung zu entscheiden (damit kann sie z.B. für den Geldfluss sorgen, den GAVI benötigt, um die Mindestpreise für Medikamente anzuheben); außerdem spielt die Organisation auf regulatorischer Ebene eine wichtige Rolle bei der Genehmigung neuer Impfstoffe und Medikamente in Entwicklungsländern. Um sich die Befugnisse wie die Autorität der WHO zunutze zu machen, verfolgte die BMGF eine weitere Geschäftsstrategie: sie machte sich zum „Teilhaber“.
Die BMGF begann früh mit Zuwendungen an die WHO, die kontinuierlich größer wurden; 2016 hatte ihr jährlicher Einsatz den Umfang von 227 Millionen US-Dollar erreicht; damit kam die Stiftung für 11 Prozent des Jahresbudgets der WHO auf – also mehr als jeder Mitgliedsstaat mit Ausnahme der USA. [33] Der Beitrag von GAVI und PATH zum Gesamtbudget belief sich auf 75 Millionen US-Dollar. [73] Der von der BMGF eingeschlagene Weg ist der Strategie von Kreuzbeteiligungen nachempfunden, mit der Unternehmen Wettbewerber zu spalten oder zu neutralisieren zu suchen. Gates hielt es nicht für erforderlich, gleich mehr als die Hälfte des WHO-Etats zu finanzieren; stattdessen investierte seine Stiftung gerade so viel, dass die Behörde ohne permanente Beiträge der BMGF nicht mehr funktionsfähig war.
Diesen finanziellen Hebel nutzte die BMGF, um faktisch die Kontrolle der globalen Gesundheitsagenda zu übernehmen: Nach Ansicht von Insidern der Gesundheitsszene sind „Gates’ Prioritäten zu denen der WHO geworden“. [39] Weithin wird davon ausgegangen, dass Bill Gates 2017 der Königsmacher bei der Bestimmung von Tedros Adhanom Ghebreyesus zum Nachfolger von Margaret Chan als Generaldirektor der WHO gewesen ist; dort wird er mittlerweile „wie ein Staatschef“ behandelt. [39] Trotz eines Protestbriefs von 30 Gesundheitsorganisationen sicherte sich die BMGF im selben Jahr einen Sitz ohne Stimmrecht im WHO-Verwaltungsrat, wodurch die faktische Partnerschaft zwischen einer einst hoch angesehenen multilateralen Institution und einem der mächtigsten Kapitalisten der Welt feierlich besiegelt wurde. [40]
Das Arrangement mit der WHO festigte das disruptive Projekt der BMGF und sicherte die langfristigen globalen Interessen des westlichen Kapitals. Seit langem etablierte Strukturen der Gesundheitsversorgung waren gezielt demontiert und die öffentliche Gesundheit rücksichtslosen Profitimperativen unterworfen worden. Es sah so aus, als würde Gates’ Vorgehen Schule machen und zum Vorbild für Mark Zuckerberg, Jeff Bezos und andere Milliardäre werden, die sich anschicken, im großen Stil und systematisch ins Stiftungswesen einzugreifen. Melinda Gates erklärte 2013 auf einer von ihr veranstalteten Konferenz über „Positive Disruption“, die Unternehmen der Ehepaars zielten letztlich darauf ab, „noch mehr Menschen den Mut zu geben, disruptiv zu sein und dadurch das Potential vieler anderer auf der Welt freizusetzen“. [2] Eine angemessene Übersetzung dieser kaum verhüllten Botschaft könnte lauten: „Disruptiv sein heißt, die Profite zu optimieren, die bei den Menschen des globalen Südens gemacht werden können.“
Diese Veröffentlichung wurde von der Taylor & Francis Group für diesen Blog genehmigt.
Title: 9781138238596 | Handbook on the Politics of Global Health – Parker & Garcia | Edn. 1
Link zum Buch: https://www.routledgehandbooks.com/doi/10.4324/9781315297255-20
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Nachweise (leider sind manche Links trotz Webarchivesuche nicht mehr aktiv)
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