Bastian Barucker
Immanuel Kant beantwortete im Jahre 1783 die Frage «Was ist Aufklärung?« unter anderem mit dem weltberühmten Satz: Sapere Aude! – «Wage es, weise zu sein!» bzw. etwas ausführlicher: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Dieser Ausspruch stammt ursprünglich vom antiken Dichter Horaz und ruft zur Mündigkeit des Bürgers auf, indem dieser die Bevormundung durch andere selbst beendet. Heute ist zu beobachten, dass die Anwendung von Propaganda immer stärker wird und die Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften in nützliche Herrschaftstechniken von Regierungen einfließen. Diese sogenannten Soft-Power-Techniken zielen größtenteils nicht auf den Verstand ab, sondern sprechen das Unbewusste und die Emotionen des Menschen an.
Der Propgandaforscher Dr, Jonas Tögel formuliert es wie folgt: «Die Tiefenpsychologie dient als Fundament der wohl wichtigsten Manipulationswaffe: die gezielte Beeinflussung des Unbewussten der menschlichen Psyche. Wie bei einem Eisberg liegt ein großer unserer Gedanken und Gefühle “unter der Wasseroberfläche”, und hier können wir so beeinflusst werden, dass wir die Steuerung selbst oft nicht bemerken.«
Angesichts solch manipulativer Entwicklungen könnte ein notwendiger nächster Schritt der Aufklärung darin zu bestehen, nicht nur den Mut zu haben, den eigenen Verstand zu benutzen, sondern sich mit dem Fühlen und dem unter dem Denken liegenden Unbewussten zu beschäftigen. Weise und vor allem mündig zu sein, würde dann nämlich beinhalten, die eigene Psyche zu kennen und verdrängte Anteile integriert zu haben – persönliche Entwicklungsschritte, die einen weitgehend davor schützen, subtil und unerkannt durch Manipulation gelenkt zu werden.
Schon Edward Bernays, der sogenannte Meister der Massenpsychologie, konstantierte: «Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie.»
Angela Merkel wusste wahrscheinlich um die politische Bedeutung von Manipulation, als sie im Jahre 2015 unter dem Titel «wirksam regieren« anfing, Strategien der Verhaltensforschung in das Regierungshandeln zu integrieren. Die USA begannen bereits ein Jahr vorher unter Barack Obama, das sogenannte sozial- und verhaltenswissenschaftliche Team (SBST) zu gründen, um Erkenntnisse aus diesen Disziplinen «für einen besseren Dienst an der amerikanischen Bevölkerung» zu nutzen. Offizieller Start der Rekrutierung von «Nudging»-Experten in die Politik war das Jahr 2009, als die -amerikanische Regierung den Nudging-Pionier Cass Sunstein anwarb. Nudging wird teilweise eher verharmlosend als sanftes Stupsen bezeichnet. Personen sollten mithillfe von Anreizen und auf Grundlage verhaltensiwssenschaftlicher Erkenntnisse zu einem vorgegebenen Zielverhalten gebracht werden, ohne dass die angesprochene Person darüber in Kenntniss gesetzt wird. Danach folgt eine globale Ausbreitung sogenannter Nudge-Units, die weltweit Regierungen und Firmen berieten.
Schon damals gab es jedoch Stimmen, die der Meinung waren, dass diese «Instrumente nicht mit unseren demokratischen Grundprinzipien vereinbar sind.» Der deutsche Justizminister Heiko Maas bezeichnete das Nudging hingegen unkritisch als «sanften Stupser in die richtige Richtung und klugen Mittelweg zwischen Überregulierung und Laissez-faire». Im Jahre 2017 lobte die damalige Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der Leyen, die Außenbeauftragte der EU Federica Mogherini für ihre Manipulationskompetenz in einer Rede wie folgt: «Ich habe selber in vier Jahren der Zusammenarbeit erlebt, wie klug, strategisch und empathisch du die Kunst des Nudging beherrschst.» Eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion an den Bundestag im Jahre 2019 ergab, dass das Thema Nudging bereits in vielen Projekten als Regierungswerkzeug besprochen wird. So heißt es in der Broschüre «Nudging in der digitalen Stadt» des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung: «Das Konzept des Nudging beruht auf Erkenntnissen der Psychologie und der Neurowissenschaften, die belegen, wie schwierig es für Menschen teilweise ist, für sie richtige Entscheidungen zu treffen.»
Auch beim Thema Klimaschutz wird diese praktische Form der Manipulation als wirksames Instrument angepriesen und findet als Green Nudging Anwendung. Die Leiterin des neu gegründeten Institutes für planetares Gesundheitsverhalten Cornelia Betsch ist der Meinung:«Wenn wir Verhalten verstehen, dann können wir Verhalten auch verändern.«
Auch die bald neu ausgerichtete Ständigen Impfkommission soll laut einem Fachgespräch im Gesundheitsausschuss des deutschen Bundestages vermehrt „Experten aus den sozialen Verhaltenswissenschaften“ beinhalten.
Der Psychologieprofessor Rainer Mausfeld umschreibt die Anwendung der Psychologie zu Herrschaftszwecken in seinem neuen Buch «Hybris und Nemesis» so: «Ideologische Macht bezieht sich auf die Macht, sinnstiftende Denkkategorien, Deutungszusammenhänge und Rahmenerzählungen zu beeinflussen und zu kontrollieren, mit denen Menschen sich ein gedankliches Bild ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit machen. Ideologische Macht ist also psychologische Manipulationsmacht.»
Zurück zu Kant und der Definition der Aufklärung: Zum Weise-Sein gehört weit mehr als das Denken, da letzteres nicht die Hauptverantwortung für unser Handeln übernimmt. Menschen sind vor allem fühlende Wesen, deren Verhalten hauptsächlich durch das Unbewusste gesteuert wird. Das weiß die herrschende Klasse sehr genau, aber noch zu wenige Menschen außerhalb der Elite sind sich der Vorgänge bewusst – und sie ahnen auch noch nichts von den manipulativen Techniken, mit denen die Öffentlichkeit im Verborgenen bearbeitet wird.
Die aktuelle Form der Herrschaft – von Rainer Mausfeld Elitendemokratie genannt – basiert unter anderem auf der systematischen Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse durch Eliten. Die Mehrheit der Menschen muss verängstigt, einsam, ohnmächtig und unbewusst gehalten werden, um «wirksames Regieren» mithilfe von Stupsern zu ermöglichen. Der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz beschreibt unsere Gesellschaft als «normopathische Angstgesellschaft» und als «Demokratiespiel». Er meint damit ein Zusammenleben, in dem das Kranke zum Normalen wird, ohne dass die Mehrheit der Menschen das überhaupt bemerkt, während demokratische Zustände vorgegaukelt werden. Maaz verweist außerdem auf die Voraussetzung psychischer innerer Demokratiefähigkeit für die Ausbildung einer «echten» äußeren demokratischen Gesellschaft.
Als weitere Zutat für ein Demokratiespiel braucht es Bürgerinnen und Bürger, die die Verantwortung für das eigene Leben mehrheitlich an Experten und Autoritäten delegieren und dabei die angenommene Gutmütigkeit der Autoritäten nie ernsthaft in Frage stellen: Eine infantile Bevölkerung, die den Staat oder die narzisstisch gestörten Regierenden unbewusst als erziehende Elternfiguren betrachtet und allen gemachten Erfahrungen zum Trotz weiterhin der Meinung ist, dass die Eltern doch nur das Beste für einen wollen. Eigensinn oder Machtgier bei diesen Akteuren werden zur Aufrechterhaltung der illusionären Selbst-Beruhigung beharrlich geleugnet. Der Autor Tim Foyle nennt beschreibt diese Dynamik mit der Überschrift «Die Psychologie des Verschwörungsleugners».
Welche Partei oder welche Ministerin mit welcher Privatlogik unter solchen massenpsychologischen Voraussetzungen die aktuelle Agenda der Machtelite in diesem «Vater Staat» durchsetzt, ist daher eher zweitrangig.
Eine psychoemotionale Aufklärung ist von besonderer Bedeutung, wenn es darum gehen soll, den Tausende von Jahren alten Teufelskreis der Herrschaft einiger weniger über die breite Masse zu durchbrechen. Analog zu einem Diktum des Mikrobiologen Luis Pasteur ließe sich sagen: Wenn das «Milieu», also der emotionale Zustand der Bevölkerung, sich verändert, hat der «Erreger» (Herrschaftsbestrebungen) weniger Entfaltungsmöglichkeiten.
Menschen, die keine Scheinzugehörigkeit (Religion, Partei, Verein) und Ersatzbefriedigungen (Süchte, Konsum) brauchen, die ihre Ängste integriert und gelernt haben erfüllende Beziehung zu führen sowie mit allen Konsequenzen Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, sind wahrscheinlich schwerer zu regieren und zu beherrschen. Deshalb ist eine emotional reife Bevölkerung auch so gefährlich für die herrschende Klasse. Und deshalb könnte ein totalitärer Staat ein Interesse daran haben, die emotionale Reifung der Bevölkerung zu unterbinden.
Die psychoemotionale Aufklärung ist aber nicht allein durch Informationsaustausch möglich. Bewusstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung sind langwierige, intensive Prozesse, die persönliche Begleitung durch Mentoren brauchen. Es ist eine Entwicklung, die den Menschen als ganzen in den Blick nimmt, um Wachstum zu ermöglichen. Bewusstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung sind keine reine Wissensvermittlung, da hier das Lernen nur aus Erfahrung heraus stattfinden kann.
Der Fokus auf den Neokortex und das dort beheimatete rationale Denken scheint in Anbetracht der enormen Kraft unbewusster und emotionaler Prozesse ungenügend. Eher könnte es darum gehen die enorme Bedeutung des Fühlens und des Erforschens eigener unbewusster Anteile im persönlichen/individuellen als auch im gesellschaftlichen Maßstab zu erkunden.
Ein weiterer wichtiger Schritt hin zu einer psychoemtional aufgeklärten Gesellschaft würde beinhalten, dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche Bildungs- und Beziehungsangebote offeriert bekommen, die ihnen die volle Entwicklung ihres Potentials erlauben. Das bedeutet unter anderem, ihnen zu ermöglichen einen hohen Grad an Bewusstheit im Bereich des Denkens und Fühlens zu ermöglichen.
Aus gutem Grund setzen Propaganda und Manipulationstechniken genau auf der Ebene des Unbewussten an. Der Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth beschreibt die Bedeutung des Unbewussten hinsichtlich des Entscheidungsprozesses: «Das Bewusstsein ist also aus dieser Sicht eine Art Großrechner ohne Entscheidungsgewalt. Bei der Frage, was getan oder unterlassen wird, darf es nicht mitreden. Erste und letzte Handlungsgründe werden im Limbischen System verhandelt, in jener Ebene des Gehirns also, die uns gerade nicht bewusst ist.»
Eine emotional aufgeklärte Gesellschaft lässt sich wahrscheinlich seltener blenden, nudgen und verführen. Außerdem kann sie zwischen narzisstisch motivierten Machtstreben und ehrlichem Dienst an der Gemeinschaft unterscheiden und wird folglich keine Politiker mehr wählen, die erst samt nichtssagender Slogans von den Plakatwänden herunterlächeln und dann eine menschenfeindliche Politik betreiben. Eine psychoemotional aufgeklärte Gesellschaft strebt danach innere Demokratie auszubilden und wird sich seltener mit dem «Demokratiespiel» zufriedengeben, weil sie es als das erkennt, was es ist: ein Herrschaftswerkzeug, um Menschen passiv zu halten.
Eine Hoffnung stiftende Vision könnte sein, dass im Zuge eines gesellschaftlichen Bewusstwerdungsprozesses mehr Menschen friedlich aber bestimmt ihr Recht auf Mitbestimmung und Gestaltung zurückfordern und eine Demokratie erschaffen, die diesen Namen auch verdient.