von Bastian Barucker

Podcast

Warum leben wir in einer Welt voller wiederkehrender Kriege, die unendlich viel Leid, Zerstörung und generationsübergreifende Traumata erzeugen? Warum werden die Erde, die Flüsse, die Wälder, die Steine und die Tiere weiterhin ausgebeutet, um mehr zu produzieren und zu konsumieren als wir brauchen?

Warum leben wir seit einigen Jahrtausenden in Zuständen, in denen eine kleine Gruppe von Menschen maßgeblich über das Leben vieler bestimmen kann und einen Großteil der Besitztümer anhäuft? Im globalen Reichtumsbericht 2023 der UBS Bank heißt es: «Schätzungen zufolge haben Ende 2022 die unteren 50 % der Erwachsenen in der globalen Vermögensverteilung zusammen weniger als 1 % des gesamten globalen Vermögens.»

Laut eines aktuellen Berichts der Organisation Oxfam zur sozialen Ungleichheit «haben seit 2020 die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen mehr als verdoppelt. Das entspricht einem Gewinn von 14 Millionen US-Dollar pro Stunde. Fast fünf Milliarden Menschen sind ärmer geworden.»

Warum verfolgt der Mensch seit einigen Jahrhunderten die Idee ständigen Wachstums und starker Kontrolle über die Natur, obwohl er sich dabei selber mittels Kriegen und Umweltzerstörung zu vernichten droht? Warum leben Millionen Kinder in Armut und so viele alte Menschen, vor allen in der entwickelten Welt, in Einsamkeit?

Liegt all das nur an fehlenden demokratischen Strukturen oder deren Unterwanderung durch internationale Konzerne und Finanzdienstleister? Müssten wir, um diese Zustände hinter uns zu lassen, einfach nur mehr Transparenz, direkte Demokratie, weniger Korruption oder bessere Bildung erschaffen und die von Gier getriebenen Interessen des Kapitals regulieren? Brauchen wir nur ein neues Parteiensystem oder demokratische Strukturen, die Beteiligung, Mitbestimmung und Machtbegrenzung möglich machen? Müssen wir nur die wirklichen Zentren der Macht aufdecken und ihren negativen Einfluss auf demokratische Strukturen mittels einer echten freien Presse der Öffentlichkeit sichtbar machen? Würde sich dann endlich alles ändern und zum Guten wenden?

Nein, ich fürchte, das wird nicht ausreichen. Analysen von Missständen und sinnvolle alternative Konzepte wurden bereits in großer Zahl publiziert – wenn auch meist nicht in den reichweitenstarken Medien! Es ist gut dokumentiert, was bei den verschiedenen gesellschaftlichen Aspekten schief läuft. Die zugehörigen täglichen politischen Verfehlungen sind dabei allerdings meist nur variierende Abziehbilder derselben zugrunde liegenden Problematik. Sie ähneln den Folgen einer TV-Seifenoper, über die es sich fast nicht mehr aufzuregen lohnt. Das täglich neu aufgeführte Schauspiel erschwert dabei allerdings den Blick aus der Vogelperspektive auf die tiefer liegende Dynamik.

Der Psychologieprofessor Rainer Mausfeld schreibt dazu in seinem Buch »Hybris und Nemesis«: «Jedes gezielte Handeln muss […] mit einem Verstehen der Situation einhergehen, die es zu bewältigen gilt. Vor jeder Therapie muss die Diagnose stehen und vor jedem gesellschaftlichen Handeln ein Verstehen der relevanten gesellschaftlichen Prozesse und Kausalitäten. Ein solches Verstehen darf nicht an der Oberfläche der alltäglichen Erscheinungsweisen politischer Phänomene verhaftet bleiben. Es muss vielmehr auf die abstrakten Prinzipien und Kausalitäten zielen, die erst die Vielfalt der Erscheinungsweisen hervorbringen. Eine politische Analyse gegenwärtiger Missstände muss sehr viel tiefer ansetzen, als es die aktuell drängenden konkreten Probleme nahelegen. Sie muss an die Wurzeln der Probleme gehen und die relevanten gesellschaftlichen Kausalitäten identifizieren, wenn aus ihr Ansatzpunkte für ein erfolgreiches Handeln erwachsen soll.»

Vielleicht ist es sogar so, dass die Empörung über das permanente Politikversagen die tieferliegende Problematik, den Kern der Dynamik verdeckt. Trotzdem richtet sich ein Großteil der Aufmerksamkeit gesellschaftskritischer Publikationen auf die Beschreibung des sich wiederholenden traurigen Spektakels. Das ist auch durchaus verdienstvoll und wichtig, aber eben wahrscheinlich nicht ausreichend.

Ich möchte die meiner Ansicht nach teilweise zu wenig beleuchtete Frage nach dem Warum stellen: Warum werden weiterhin Leid erzeugende Strukturen erschaffen, anstatt Wege zu finden, um mit uns, der Erde und unseren Mitmenschen in Frieden zu leben? Auch alternative Projekte und sinnstiftende Vorhaben treffen bei der praktischen Umsetzung in der Regel rasch auf die selben Problematiken, die sie kritisieren, und sind teilweise nicht in der Lage, diese zu überwinden, obwohl alle Beteiligten ihr Bestmögliches tun, um Veränderungen zu bewirken.

Ein bekanntes Beispiel ist hier etwa die Gemeinschaft, die sich um den Guru Osho, zuvor Bhagwan genannt, gründete und schlussendlich fast genau die Kontroll- und Machtstrukturen aufbaute, die sie zu überwinden versuchte. Ein weiteres Beispiel ist die prominente Buchautorin und Psychologin Alice Miller, die in ihren weltweit verkauften Büchern die Bedeutsamkeit frühkindlicher Erfahrung für die Persönlichkeitsentwicklung beschreibt und gleichzeitig jahrelang dabei zusah, wie ihr eigener Sohn täglich vom Vater geschlagen wurde.

Eindrücklich ist auch die Geschichte der Kommune Friedrichshof rund um Otto Mühl, die bei dem Versuch, sich ab dem Jahr 1970 vom Konstrukt der Kleinfamilie zu befreien, Eltern dazu brachte, die Verantwortung für das Wohl der Kinder nicht mehr ernstzunehmen und an das Kollektiv abzugeben. In dem Film «Meine keine Familie» dokumentiert der Zeitzeuge Paul-Julien Robert das Geschehen. In einem Interview fasst er das Erlebte wie folgt zusammen: «Man muss den Friedrichshof auch aus seiner Zeit heraus begreifen. Am Anfang war das ein mutiges, lebendiges Experiment. Die Bewohner brachten ihre eigenen Ideen ins Zusammenleben ein. Dann fand allmählich die Verwandlung statt. Vom menschlichen Stamm zu einem autoritären System am Ende. Es war ein Mikrokosmos, der sich radikal veränderte.» Später stellte sich heraus, dass Otto Mühl «sich des vielfachen sexuellen Missbrauchs und der Vergewaltigung von Kindern und Jugendlichen strafbar machte».

Als politisches Beispiel lässt sich auch die Partei der Grünen anführen, die – als Friedenspartei mit NATO-Austriffsforderungen gestartet – nun ganz offen für Kriege und für Waffenlieferungen auch in Kriegsgebiete steht. Hier jedoch muss neben psycho-emotionalen Aspekten auch in Betracht gezogen werden, dass politischer Aufstieg, also die Annäherung an die Zentren der Macht, nur dann möglich ist, wenn aufstrebende Akteure die aktuelle Agenda bedienen und sich dementsprechend neoliberal einpflegen lassen.

Heißt Mensch sein, sich durchsetzen zu wollen, auf den eigenen Vorteil aus zu sein und Macht erlangen zu wollen? Schaffen wir es deshalb nicht, gemeinsam Bündnisse zu bilden, die gemeinwohlorientiert sind und bleiben, weil wir stets aufs Neue in den immer gleichen Konfliktsituationen landen? Wenn ja, warum ist das so? Ich glaube, dass es daran liegen könnte, dass wir unsere verinnerlichten Prägungen im Außen so lange erschaffen, bis wir bereit sind, diese anzuschauen und zu integrieren.

Ein Mensch, der als Kind Ohnmacht erlebt hat, tendiert dazu, Macht erlangen oder sich vor Ohnmacht mittels Gewalt, Status oder ähnlichem schützen zu wollen. Wer Verlassenheit erlebt hat, erhofft sich Geborgenheit und Zugehörigkeit und wird diese kompensatorisch in Vereinen, Parteien, Religionen und Clubs suchen und teilweise auch finden. Wer wiederholt und frühzeitig die Erfahrung von Mangel und Wertlosigkeit gemacht hat, wird dies wahrscheinlich mittels Karriere oder Konsum bewältigen wollen. Die Erfahrung von Angst kann laut der Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. Annemarie Jost zu folgender Dynamik führen: “Wenn ein (früh-)kindlich angstvolles Erleben die Handlungen bestimmt, gelingt es sich selbst überschätzenden Führungsfiguren leichter, durch Gewähren von scheinbarem Schutz die Autonomie der Menschen einzuhegen.”

Besonders interessant ist vielleicht der Zusammenhang zwischen sozialer Interaktion und primären, also frühkindlichen Erfahrungen, zumal Säuglinge als sozial kompetente Wesen auf die Welt kommen, die von von Anfang an ihr Umfeld genau wahrnehmen und mit ihm in Beziehung gehen wollen. Ein extremes Beispiel dafür findet sich in dem Buch «Für die Liebe geboren», welches sich mit der Empathiefähigkeit des Menschen befasst. Dort heißt es: «Affen, die in Isolation ohne Mütter aufwachsen, sind in sozialer Hinsicht unbeholfen, und zwar bis zu dem Punkt, dass sie sich nicht einmal erfolgreich paaren können. Sie sind außerdem ängstlich und feindselig. Werden derartige Weibchen befruchtet, töten sie häufig ihre Babys.»

Ein Beispiel aus der Verhaltensforschung mit Nagetieren aus dem Buch «Wir können unsere Gene steuern» der Professorin für Neuroepigenetik an der Universität Zürich, Isabelle M. Mansuy zeigt folgenden Zusammenhang: «Die stärker Bemutterten werden Stress viel besser im Griff haben, sie werden ruhig, sozial und abenteuerlustig sein. Die Vernachlässigten werden ängstlich und furchtsam sein und kognitive Störungen aufweisen

Und auch hier zeigt sich eine Art Reinszenierungszwang, denn im dazugehörigen Buchabschnitt heißt es weiter: «Bei den jungen Rattenweibchen wird auch ihr Verhalten als Mutter stark davon beeinflusst sein, wie viel mütterliche Fürsorge sie selbst erhielten.»

Dabei handelt es sich um Bewältigungsstrategien, die jedoch nie in der Lage sind, das ursprüngliche Bedürfnis zu befriedigen, und die suchtartigen Charakter entwickeln können. Unerkannt entsteht so eine unendliche Suche, ein Teufelskreis, der sich eigentlich um eine frühe sehr prägende Erfahrung dreht. Die Psychologie nennt das den Zwang zur Reinszenierung. Solche Situationen können als Geschenk wahrgenommen werden , wenn man sie als Hinweis auf die eigene Geschichte erkennt und sich dieser dann zuwendet. Ähnlich eines wiederkehrenden Alptraums ist die Reinszenierung ein Hilferuf des Unbewussten, sich einer persönlichen Thematik endlich anzunehmen.

Der französische Psychologe und Psychotherapeut Pierre Janet brachte es auf den Punkt: «Wer ein Trauma nicht realisiert, ist gezwungen, es zu wiederholen oder zu reinszenieren.»

Der Blick nach Innen

Ich bin der Meinung, dass es Zeit für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ist. Ein Wandel, der neben der nötigen Veränderung im Außen darauf abzielt, dass sich viele Individuen nach Innen wenden und sich der manchmal unangenehmen Frage stellen, ob sie bislang meist unbewusste Prägungen in sich tragen, die starken Einfluss auf ihr Leben haben.

Unter Prägungen verstehe ich sich wiederholende, emotional bewegende Erlebnisse in den ersten Lebensjahren, die zu Grundeinstellungen gegenüber dem Leben und anderen Menschen führten. Wiederkehrende Beispiele sind: «Es hat eh keinen Sinn, sich einzulassen, da ich immer wieder verlassen werde.» «Man kann niemandem vertrauen, außer sich selbst.» «Die Welt ist ein gefährlicher Ort und überall lauern Gefahren.» «Ich muss besondere Leistung erbringen, um Anerkennung zu erfahren.» «Wenn ich authentisch bin und nicht die Erwartungen der Anderen erfülle, werde ich nicht mehr geliebt.»

Ich erinnere mich gerne an das erste Mal, als ich in einer begleiteten Sitzung mit mir unbekannten sehr starken Gefühlen in Kontakt kam und deren Ursprung begreifen durfte. Nach dem Ausdruck von Trauer und Wut war es mir durch Hilfestellung der Prozessbegleiterin möglich, auszudrücken, was ich in einer mit Einsamkeit, Verlassenheit und Ohnmacht verbundenen frühkindlichen Erfahrung wirklich gebraucht hätte, um mich zufrieden und ganz zu fühlen.

So viele Fragen über mich und meine Verhaltensweisen wurden durch diese Erfahrung glasklar und unmissverständlich beantwortet. Ich durfte in dieser Sitzung auch erleben wie es sich anfühlt, ohne diese unbewusste Last durch das Leben zu gehen. Ich war einfach da, zufrieden und ohne das subtile Leid, welches bis dahin meinen Alltag bestimmte. Meine existenziellen kleinkindlichen Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit und Anerkennung waren in diesem Augenblick erfüllt. So einfach war das!

Der Psychologe und Begründer der Primärtherapie Dr. Arthur Janov, der 30 Jahre lang Zusammenhänge zwischen Psychotherapie und Nervenheilkunde erforschte, beschreibt den Erkenntnisprozess durch das Fühlen wie folgt: «Nachdem eine Verbindung zwischen den Gefühlsempfindungen und dem denkenden Verstand hergestellt wurde, sind die Wahrnehmungen genauer und ein nie gekanntes Gefühl der Ruhe und Entspannung stellt sich ein.»

Ganz ähnlich formuliert der Psychologieprofessor Franz Ruppert die Integration unbewusster Anteile durch einen Ansatz des Fühlens in seinem Buch «Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?«: «Denn letztlich können nur über das Ausdrücken von Gefühlen die fragmentierten psychischen Strukturen wieder zur Einheit zusammenfinden.»

Ich durfte durch meine Tätigkeit als Begleiter in Prozessen der Gefühls- und Körperarbeit nach Willi Maurer Einblick in Hunderte Lebensgeschichten nehmen. In der Gefühls- und Körperarbeit entsteht ein Raum, in dem Menschen dabei unterstützt werden, ausgehend von alltäglichen Konflikten unbewusste Erfahrungen wiederzuentdecken, auszuleben und zu integrieren. Fast immer zeigt sich in diesen Prozessen, dass die begleitete Person starke abgespaltene Gefühle und Impulse in sich trägt, die ihr Leben alltäglich beeinflussen. Dazu gehören unter anderem tiefer Hass, Wut, Trauer, Ohnmacht, Verlassenheit und Verzweiflung und dazugehörige Verhaltensweisen, die den Menschen oft daran hindern, ein Leben in Fülle, Präsenz und Verbundenheit zu gestalten. Sehr oft entsteht in diesen Arbeiten auch ein Verständnis dafür, warum die begleitete Person als Erwachsene Leid erzeugende Verhaltensweisen stets aufs Neue wiederholt: Es handelt sich dabei um die selbsterfüllende Prophezeiung frühkindlicher Erfahrungen, die angeschaut und transformiert werden möchte. Das wiederum gelingt dann, wenn der ursprüngliche Schmerz durch Selbsterfahrung über einen längeren Zeitraum bewusst wird und neue, beziehungsfördernde Verhaltensweisen erlernt werden dürfen.

Der Autor und Psychohistoriker Sven Fuchs analysierte in seinem Buch «Die Kindheit ist politisch» die Zusammenhänge zwischen Extremismus, Kriegen und Terror anhand der Kindheitserfahrung bekannter Täter. Darin heißt es:

«Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d.h. es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen“.“ Dieser Satz stammt aus der Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens aus dem Jahr 1887. Der Satz steht, wie wir im Textverlauf sehen werden, exemplarisch für das grundsätzliche Erziehungsverhalten gegenüber Kindern nicht nur im Dritten Reich, sondern galt (und gilt weiterhin in vielen Teilen der Welt) im Grunde weltweit. In den meisten Regionen und auch Zeiten braucht es allerdings kein Regelwerk wie das oben genannte oder überhaupt ein bewusstes Ziel, um Kinder zu brechen. Es geschah (und geschieht weiterhin) einfach aus dem Grund, weil Eltern, Pädagogen und alle, die für Kinder zuständig sind und Macht über Kinder haben, stets das weitergaben, was sie selbst als Kind erlitten hatten.»

Die Forschungsbereiche der Epigenetik, Entwicklungspsychologie und Pränatalpsychologie untermauern mit einer wachsenden Zahl an Veröffentlichungen die Annahme, wie gesellschaftlich relevant und politisch frühkindliche Erfahrungen sind. Die oben bereits erwähnte Isabelle M. Mansuy formuliert es in ihrem oben bereits erwähnten Buch mit dem Untertitel «Die Chancen der Epigenetik für ein gesundes und glückliches Leben“ so: «In der Verhaltensbiologie wie in der klinischen Psychologie weiß man, dass die emotionale Bindung in der frühen Lebensphase Einfluss auf die psychische Entwicklung, den Körper und das generelle Gleichgewicht eines Menschen ausübt.»

Der Therapeut und Autor Ludwig Janus beschreibt diese Dynamik in seinem Artikel «Das Unbewusste in der Politik – Politik des Unbewussten» wie folgt:

«Die psychohistorische Forschung konnte zeigen, dass die Kindheit historisch ein Albtraum war, aus dem wir gerade erst erwachen (deMause 1979). Kinder, die in diesem Albtraum aufwuchsen, hatten keine Möglichkeit zur Verarbeitung und konnten gar nicht anders als die Kindheitsschrecken in ihrem Leben zu reinszenieren und damit die Geschichte zu dem Albtraum zu machen, aus dem wir gerade herauszuwachsen hoffen. Ein bei uns nicht weit zurückliegendes Beispiel sind die „Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die man in wesentlicher Hinsicht als Reinszenierungen traumatischer Kindheitserfahrungen verstehen kann, wie ich das in einem eigenen Text mit diesem Titel ausgeführt habe. Die Hörigkeitsstrukturen im Kaiserreich und im Zarenreich mit dem selbstverständlichen Schlagen und Misshandeln der Kinder sind ein Hintergrund für den Ersten Weltkrieg und die Persistenz dieser Strukturen ebenso für den Zweiten Weltkrieg. Die Hörigkeitsstrukturen in der Mehrheit der Bevölkerung waren noch dieselben, es wurde gewissermaßen nur „umdekoriert“, vom Kaiser auf den Führer, dem man ausgeliefert ist wie der „Allmacht“ der pränatalen Mutter, so dass man nach der Geburt in der patriarchal geprägten Gesellschaft nur der „Allmacht des Vaters“ nachfolgen konnte, um überhaupt leben zu können.»

Manchmal kommt im Rahmen der Gefühls- und Körperarbeit bei begleiteten Personen der Impuls auf, aufgestaute Wut und Hass in Form von Aggression auszudrücken. Auf ein Kissen schlagend, schreiend oder an einem Tuch ziehend, darf dann im sicheren Rahmen ein Impuls ausgelebt werden, der ursprünglich einer Person galt, die für den persönlichen Schmerz in der Kindheit verantwortlich ist. Dieser bisher ungelebte Impuls und die dazugehörigen unbewussten Gefühle schlagen sich negativ auf die Gesundheit der Betroffenen nieder und verursachen meist wiederkehrendes, scheinbar unauflösbares Leid im Erwachsenenalter. Doch den meisten Menschen ist gar nicht klar, wann diese Misere begann und dass sie solche Impulse überhaupt in sich tragen.

Kompensatorisches Konsumverhalten, Machtstreben, Gewalttendenzen, Rücksichtslosigkeit, Ignoranz und Resignation sind, wie oben schon angedeutet, Zustände, die durch diesen emotionalen Rucksack begünstigt werden. Sie dienen als Ablenkung oder Ventil, um den eigentlichen Schmerz zu verdecken oder zu unterdrücken.

Wie viele Menschen tragen wohl solch eine emotionale Last mit sich herum?

Im Falle von Deutschland gehören dazu auch die größtenteils unverarbeiteten Traumata zweier Weltkriege, die immer noch im Zellgedächtnis der Nachkommen gespeichert sind und mittels transgenerationaler Traumatisierung Wirkung entfalten. Aber wie soll man sich auch einer Sache zuwenden, von der man gar nicht weiß, dass sie existiert? Traumabewältigung und Persönlichkeitsentwicklung sind trotz ihrer Bedeutsamkeit für Gesellschaft und Demokratieverständnis weitestgehend Randthemen, die nur eine kleine Minderheit zu interessieren scheinen. Zeitungen und Fernsehsendungen widmen sich den aktuellen politischen Geschehnissen, aber eher selten den mutmaßlich zugrunde liegenden emotionalen Dynamiken. Vieles deutet darauf hin, dass Politik und Gesellschaft sich dieser Dinge weitestgehend nicht bewusst sind.

Es ist die Frage nach dem Ursprung des Übels, nicht die Analyse seiner unterschiedlichen Symptome, die mich, in Anlehnung an Mausfelds Perspektive weiter oben im Text, umtreibt. Es geht mir um die Frage, wann und wie der Mensch sein Verhalten, sein Weltbild und seine Persönlichkeit entwickelt. Kollektiv bilden diese Persönlichkeiten nämlich die Gesellschaft – die wiederum Strukturen erschafft, die ein Abbild des Innenlebens der in ihr lebenden Menschen ist.

Lassen Sie uns für eine Weile nicht nur den Fokus auf täglich variierende Verkörperungen dieser destruktiven Strukturen legen. Tun wir stattdessen etwas, was vermutlich noch herausfordernder ist und zudem wenig gesellschaftliche Beachtung erfährt: Erlauben wir uns zu fühlen! Der berühmte Therapeut Arhur Janov, bei dem sich Beatles-Mitglied John Lennon mithilfe der Primärtherapie behandeln ließ, schrieb plakativ: «Die Krankheit ist die Verleugnung des Fühlens, und das Heilmittel ist das Fühlen.» (Auf John Lennons Album «Imagine» von 1971 finden sich deutliche Bezüge zu seiner Therapie bei Janov, etwa im Lied «Crippled inside».)

Wenn gesellschaftlich erkannt werden würde, wie stark unsere Persönlichkeit durch unsere Kindheit und generationsübergreifende Traumata geprägt werden, könnte ein Umdenken in Richtung Salutogenese stattfinden. Der Begriff bedeutet, dass die Frage nach dem Erhalt und der Förderung von Gesundheit und Beziehungsfähigkeit in den Mittelpunkt rückt.

Es bräuchte gesellschaftliche Strukturen, die ermöglichen, dass Kinder von Zeugung an in friedlichen Verhältnisse aufwachsen und Beziehungserfahrungen machen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Das gelingt dann am besten, wenn Erwachsene sich dem eigenen, inneren Kind, also den frühkindlichen Anteilen der eigenen Persönlichkeit, zuwenden.

Denn meiner Erfahrung nach öffnet sich dann ein Tor zur eigenen Verletztheit, wenn Eltern ihren Kindern die Nähe, Geborgenheit und Zuwendung geben, die sie selber nicht in ausreichendem Maß bekommen haben, um das eigene Leid nicht zu reinszenieren und an die kommende Generation weiterzugeben. Das wiederum zeigt auf, wie viel Mut und Kraft es braucht im Alltag in den eigenen Beziehungen für einen gesellschaftlichen Wandel zu sorgen, da es regelmäßig dazu führt an eigene Mangelerfahrungen erinnert zu werden.

Die Integration der eigenen Kindheitserfahrungen bereitet den Boden für einen bedürfnisorientierten Umgang mit den eigenen Kindern und mit sich selbst. Selbsterfahrungsgruppen, Psychotherapien, Familienaufstellungen und andere Formate können, wenn sie kompetent begleitet werden, einen Erfahrungsrahmen bieten, um sich auf die Forschungsreise in die eigene Psychohistorie zu machen.

So kann auch ein gesellschaftlicher Wandel in Richtung Friedfertigkeit, Kooperation, Zugehörigkeit und Lebendigkeit stattfinden!

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