Die Enthüllung der restlichen Protokolle des Robert-Koch-Instituts durch die Journalistin Aya Velazquez sind im Mainstream angekommen und entfachen eine Welle von Aufarbeitungsdebatten der Pandemie-Politik.

Erinnern wir uns jedoch an die ursprüngliche, vom Journalisten und Mitherausgeber des Multipolar-Magazins Paul Schreyer gestellte Frage, die zum Rechtsstreit um die Veröffentlichung der Protokolle führte. Er wollte in Erfahrung bringen, welche medizinische Grundlage für die Risikohochstufung des Coronavirus Mitte März 2020 vorlag. Es ging ihm um die Klärung der Gefahr, die durch das Virus für die Bevölkerung ausging, weil diese entscheidend für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der gesamten Corona-Maßnahmen ist.

Heute ist gut belegt, dass sowohl der damalige RKI-Präsident Wieler als auch der aktuell amtierende Präsident Lars Schaade die Hochstufung nicht mit aussagekräftigen Daten begründeten, sondern die Öffentlichkeit mit den sogenannten Fallzahlen in die Irre führten.

Was erfahren wir Neues über diese Fallzahlen und vor allem die Gefährlichkeit des Coronavirus insgesamt aus den geleakten Dokumenten?

Zunächst sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen, dass der Begriff Pandemie im Alltagsverständnis zwar Gefahr signalisiert. Doch die WHO hatte 2009, kurz bevor sie die Schweinegrippe zur Pandemie erklärte, die Pandemiedefinition geändert. Zuvor war von einer „enormen Zahl von Toten“ die Rede, danach nicht mehr.

Während der Verhandlungen zum Pandemieabkommen und der Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) waren unterschiedliche Definitionen im Gespräch. Im Zuge der Reform der IGV im Mai 2024 einigte man sich auf die Definition einer „pandemischen Notlage“, eine Steigerung der bekannten „gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“, wie Jean Merlin von Agris von der Universität Leeds in Großbritannien in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung schreibt.

Er führt weiter aus: „Kriterien für ihre Ausrufung sind eine weite geografische Verbreitung einer Infektionskrankheit, eine durch sie hervorgerufene Überlastung der Gesundheitssysteme betroffener Staaten sowie erhebliche sozioökonomische Auswirkungen zum Beispiel auf den Personen- und Güterverkehr.“ Darüber hinaus müsse die Notlage ein „‚internationales Handeln mit einer ressortübergreifenden (‚whole-of-government‘) und gesamtgesellschaftlichen (‚whole-of-society‘) Herangehensweise‘ begründen“. Kein Wort zur Schwere der Krankheit oder ihrer Tödlichkeit – und viel Interpretationsspielraum.

RKI-Files: Gefährdete Corona das Gesundheitssystem?

Doch was findet sich nun in den RKI-Files zur Gefahreneinschätzung in Sachen Corona?

Beginnen wir mit dem Argument: „Corona ist gefährlich, weil es das Gesundheitssystem überlasten könnte“: Der Bundestagsvizepräsident und Rechtsanwalt Wolfang Kubicki hat in einer aktuellen Stellungnahme eine lesenswerte Analyse zu den juristischen Implikationen der RKI-Protokolle veröffentlicht. Darin schreibt er: „Ich darf festhalten: Im Laufe der Jahre wurden viele Fragen durchaus ordentlich beantwortet. Ich habe Lauterbachs Haus so lange mit interessierter Aufmerksamkeit hinsichtlich der umstrittenen „StopptCovid-Studie“ bedacht, bis die zugrundeliegenden Daten im März dieses Jahres der steuerzahlenden Öffentlichkeit endlich zur Verfügung gestellt wurden. Mir wurde mittels schriftlicher Einzelfrage offiziell bestätigt, dass das deutsche Gesundheitssystem während der Pandemie nie überlastet war.“

Zwar wird die ausbleibende Überlastung gerne mit der Wirksamkeit der Maßnahmen begründet, im RKI-Protokoll des 20. November 2020 heißt es jedoch: „Erfolg von Maßnahmen kann mit RKI-Daten nicht zufriedenstellend beantwortet werden, selbst mit lokalen Studien wird es nicht mit ausreichendem Detail erfasst. Wir wissen, welche Faktoren die Inzidenz hochtreiben und kennen sinnvolle Maßnahmen, werden dies aber mit RKI-Daten nicht belegen können.“

Brisant ist diesbezüglich auch, dass laut Recherchen des Magazins Multipolar im RKI anscheinend nachträglich ein Protokoll aus März 2020 verändert wurde, in welchem eine Passage zu finden ist, die einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Abflachen der Fallzahlen und den Maßnahmen in Frage stellt. Die gelöschte Passage: „Bevölkerungsbezogene Maßnahmen zeigen Effekt (…). Ute [Rexroth, Anmerkung des Autors]: Aber gewagt, Causalität herzustellen. Wir sind ja generell am Ende der Grippesaison – vorsichtig formulieren.“ Diese Version soll geändert worden sein in: „Strategien gehen in die richtige Richtung. Aber vorsichtig formulieren.“ (Beide Protokollvarianten sind hier einzusehen.) Das RKI bestreitet jedoch inhaltliche Änderungen vorgenommen zu haben.

Die Belegung der Krankenhausbetten und Intensivstationen durch Covid-19-Patienten, die als möglicher Grund für eine potentielle Überlastung des Gesundheitssystems propagiert wurde, belief sich im Jahre 2020 laut einer durch das Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Analyse des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung auf nur zwei bzw. vier Prozent und das bei einer besonders niedrigen Auslastung im Jahre 2020.

Das wiederum lässt die Annahme zu, dass das Virus vielleicht doch nicht so gefährlich war wie zwischenzeitlich kommuniziert und dass Christian Drosten mit seiner ursprünglichen Einschätzung auf der Bundespressekonferenz am 2. März 2020, also kurz vor der Risiko-Hochstufung durch das RKI, Recht hatte, dass es sich bei Corona um eine „milde Erkrankung“ handele.

Interessanterweise kommt das RKI Ende 2020 zu folgender gegensätzlicher Bewertung: „Fazit: deutliche Schwere im Vergleich zu Influenza hinsichtlich Mortalität, Übersterblichkeit kann ohne präventive Maßnahmen wie im Frühjahr extrem hoch sein, selbst mit Maßnahmen höher als bei Influenza“

RKI-Files: War Corona gefährlich, weil potenziell tödlich?

Das führt zum nächsten Argument: „Corona ist gefährlich, weil potenziell tödlich“. Ein Jahr nach der Risiko-Hochstufung, am 19. März 2021 heißt es in den RKI-Protokollen bezüglich der Sterbefallzahlen: „Leicht unter dem Durchschnitt der Vorjahre, ggf. durch ausbleiben der Influenzawelle, es ist keine Übersterblichkeit sichtbar“. Weiter heißt es: „COVID-19 sollte nicht mit Influenza verglichen werden, bei normaler Influenzawelle versterben mehr Leute, jedoch ist COVID-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)“.

Im selben Protokoll ist außerdem zu lesen: „Das Argument, dass ältere, gebrechlichere Menschen, die auch ohne COVID-19 zeitnah versterben würden, sollte entschärft werden“. Warum dieses faktisch richtige Argument entschärft werden sollte, steht nicht in den Protokollen. (Das Durchschnittsalter eines an oder mit Corona Verstorbenen lag bei 83 Jahren, wie bereits im Februar 2021 berichtet wurde.). Vielleicht ging es schlicht darum, weiterhin ein vermeintlich hohes Risiko für die Bevölkerung begründen zu können?

RKI-Files: War Corona gefährlich, weil es sich leicht verbreitete?

Doch selbst wenn man die Schwere der Krankheit oder die Belastung des Gesundheitssystems ausklammert und sich eher auf das Argument konzentriert: „Corona ist gefährlich, weil es sich leicht verbreitet“, stößt man auf Ungereimtheiten bezüglich der Risikohochstufung. Ende März 2020 heißt es in einem RKI-Protokoll: „Virologische Ergebnisse legen nahe, dass SARS-CoV-2 nicht breit zirkuliert“.

Im Protokoll vom 6. April 2020 heißt es: „Es stellt sich generell die Frage, ob aktuell die Fallzahl aufgrund vermehrter Testung steigt. Eine Zunahme der Testungen kann einen künstlichen Anstieg erzeugen, ohne dass sich der epidemiologische Verlauf ändert, allerdings fehlen uns dazu verlässliche Daten. Testungen haben tatsächlich zugenommen, während der Positivenanteil von 13 auf 8,5% zurückgegangen ist.“

Das RKI weist hier selbst auf einen sehr fragwürdigen Punkt hin. Tatsächlich war das massenhafte und anlasslose Testen, welches wiederum die Fallzahlen erschuf, auf die sich dann Medien und Politik bezogen haben, die Grundlage für die Irreführung der Öffentlichkeit in Sachen „Risikokommunikation“.

Jens Spahn veröffentlichte am 17. April 2020 ein Papier mit dem Titel: „‚Testen, testen, testen‘ – aber gezielt“. Bis dahin schien die Lage entspannt. Noch am 8. April 2020 heißt es in den RKI-Protokollen bezugnehmend auf die hauseigene Erfassung grippeähnlicher Erkrankungen (ILI), zu denen Corona gehört: „ILI Raten auf niedrigem Niveau im Vergleich zu Vorjahren. Auch ARE [Akute respiratorische Erkrankung, Anmerkung der Redaktion] -Konsultationsinzidenz in allen Altersgruppen abgefallen, drastischer Abfall bei jüngeren Gruppen“.

Spahns „Testen, testen, testen“

Doch dann will Spahn „Testen, testen, testen“. In den RKI-Protokollen heißt es wenige Tage darauf: „Papier kommt von Jens Spahn, Arbeitsebene wurde vorab nicht stark eingebunden“.

Im Zusatzmaterial befindet sich auch eine Dokumentation vom April 2020 zur Umsetzung der Teststrategie, in der explizit keine Empfehlung für die massenhafte Testung von gesunden Personen zu finden ist.

Im Mai 2020 heißt es dann„‚Testen, testen, testen‘ ist im Grunde eine implizite Strategieergänzung, die von Politik vorgegeben wurde. Insgesamt heikel, da die Politik Vorgaben gemacht hat, mit denen in manchen Punkten nicht ganz übereingestimmt wird. Diese müssen aber soweit möglich in Strategie integriert werden“. Doch sogar die Bundesländer waren dagegen, wie aus einem Protokoll vom Juli 2020 hervorgeht: „Auch die BL haben sich gegen „Testen, Testen, Testen“ ausgesprochen.“

Ebenfalls im Mai 2020 liest man in den RKI-Protokollen: „Während zu Beginn der Epidemie die Testung asymptomatischer Personen nicht empfohlen wurde, so sollen nach Ankündigung von BM Spahn und Anweisung aus dem BMG vom 17.04.2020 auch asymptomatische Kontaktpersonen getestet werden.“

Der Medizinprofessor Matthias Schrappe hatte bereits im April 2020 mit einer Professorengruppe die Corona-Teststrategie ausführlich kritisiert. In einem weiteren Thesenpapier einen Monat später, welches sich im Zusatzmaterial des RKI-Leaks befindet, schreibt er: „Da es sich bei der Durchführung der Tests aktuell um ein anlassbezogenes Vorgehen handelt, ist bei den täglich gemeldeten Fallzahlen nicht abzulesen, ob es sich dabei um tatsächlich neu aufgetretene Fälle oder um den Effekt der Ausweitung der Stichprobe handelt. Auch der Bezug auf die Zahl der täglich durchgeführten Teste [sic!] wäre schon ein Fortschritt. Der Anteil der positiven Testergebnisse fällt wohl ab, aber die Zahlenangaben sind widersprüchlich und verwirrend“.

Als sich bis November 2020 die Datenbasis nicht ändert, wird Herr Schrappe im ZDF sehr deutlich: „Diese täglich erhobenen Infektionsahlen sind vom Nebel nicht weit entfernt… Diese Zahlen sind … das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben ist.“

Im Juni 2020 steht man im RKI anscheinend vor einem Dilemma, wie man mit dieser Willkür umgehen soll: „Die Testung sollte in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Wie kann dem politischen Wunsch nach verstärkter Testung entgegengekommen werden?“ Im April 2021 liest man dann in den RKI-Protokollen: „Die Inzidenz-Grenzwerte sind willkürliche politische Werte.“

Die Sache blieb heikel. Ein Jahr später heißt es in einem Protokoll vom 11. April 2022: „Testungen in Schulungen [vermutlich sind Schulen gemeint, Anmerkung des Autors] damals auf expliziten Wunsch der Bundeskanzlerin aufgenommen, nicht RKI Schwerpunkt, welcher Stellenwert hat ein Test in den Schulen, wenn sich die Situation wieder verschärft? Auch in den Schulen wurde also auf politischen Wunsch hin getestet.

Rufen wir uns nochmals Paul Schreyers Frage ins Gedächtnis: Wie kam es zur Corona-Risiko-Hochstufung? Wem die bisherigen Ausführungen noch nicht genügen, der möge die Frage anhand eines Protokolls vom 25. Februar 2022 beantworten. Hier ging es nicht um die Hochstufung, sondern um die Herabstufung des Risikos: „Reduzierung des Risikos von sehr hoch auf hoch wurde vom BMG [Bundesgesundheitsministerium] abgelehnt“. Am 26. April 2023: „Der Minister hat Anfang April die Pandemie für beendet erklärt … könnte überlegt werden, die Risikobewertung auf niedrig zu setzen.“

Die enorme politische Einflussnahme und die Motive dahinter müssen dringend aufgeklärt werden. Immerhin: Ohne die Ausrufung einer Pandemie und die Suggestion eines Notfalls hätte es keine Notfallzulassungen für die mRNA-Produkte gegeben und „ohne die Maßnahmen und den Lockdown sind Impfstoffe weniger gefragt“, wie die Tagesschau in einem Bericht über das Mainzer Unternehmen BioNTech kürzlich freimütig schrieb.

Das Handelsblatt berichtete Anfang August 2024: „Für die Mainzer wird der sinkende Umsatz mit dem Corona-Impfstoff ein immer größeres Problem.“ Zugleich heißt es in dem Bericht, Biontech erwarte einen Großteil seiner Umsätze, gut 90 Prozent, erst im vierten Quartal. Woher diese immense Umsatzsteigerung gegen Jahresende kommen soll, wird nicht erklärt.


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