Bild: Tom Hegen

Der Blick nach Außen auf die Missstände der Welt, die Verfehlungen der Politik oder das Verhalten der Anderen ist wohl geübt und omnipräsent. Was gibt es nicht alles im Außen zu kritisieren und zu verändern, um endlich besser leben zu können? Wenn sich jedoch dieser Blick von der großen Bühne der Politik abwendet und sich Stück für Stück dem eigenen persönlichen Leben zuwendet, gibt es viel zu entdecken. Dann erkenne ich bald mich und mein ganz direktes Umfeld: Meine Beziehungen! Lebe ich die Werte, die ich mir von anderen wünsche oder erwarte? Kritisiere ich auch im Privaten lieber andere, als mich zu betrachten und in den Blick zu nehmen? Die Analyse anderer kann auch dazu dienen, eben nicht zu mir zu schauen. Das wahrscheinlich beste Übungsfeld für den Mut sich selber zu betrachten ist die Partnerschaft und das Elternsein. Ein Partner kann unbewusste und verdrängte Anteile zum Klingen bringen und so tiefe Erschütterungen im Leben auslösen. Warum die Partnerschaft und die damit verbundenen Entdeckungen ein Schatz sind und wie es gelingen kann gemeinsam mit dem Partner den Königsweg des Wachstums zu beschreiten, beschreibt ein Textausschnitt des Schweizer Psychoanalytikers, Franz Renggli. In seinem Buch “Verlassenheit und Angst – Nähe und Geborgenheit” erklärt er, was geschieht, wenn sich Partner voneinander emotional berühren lassen und den Blick nach Innen wenden, um gemeinsam an ihrer Partnerschaft zu wachsen.


Der Blick nach Innen

„Die Erfahrung aller meiner Paarbegleitungen zeigt nun: Wenn nach der ersten Verliebtheit langsam der „Alltag“ in eine Beziehung einkehrt, neigen beide Partner immer mehr dazu, ihre Schattenseiten, ihre Alten und frühen Verletzungen auch in der Beziehung zuzulassen. Je sicherer die Grenzen sind, desto vertrauensvoller dürfen diese frühen Schmerzen gespürt und erfahren werden. Wir „steigen dann wieder ab“ in unsere ursprüngliche Hölle der Verlassenheit, in die frühkindliche Prägungen, wie ich sie hier beschrieben habe. Nur: die Hölle sind dann nicht länger die Eltern, sondern jetzt der Partner oder die Partnerin! Vielleicht könnte ich sie oder ihn umbringen vor Enttäuschung und Wut, weil er/sie mich so sehr verletzt hat. Und damit kann sie beginnen, die Heilung der alten Wunden in der Paarbeziehung! Aber nur dann, wenn wir bereit sind unsere alten verletzten Gefühle wirklich zu spüren und zuzulassen. Und wenn wir zu diesem Schritt bereit sind, dann können wir auch gleichzeitig empfinden und wissen: Das sind unsere ureigensten alten Verletzungen, welche wir seit der Kindheit in uns tragen – ein Partner mit seinen Worten und seinem Verhalten ist nur der Auslöser unseres alten Schmerzes, ein harter Spiegel unserer alten Wunden! Wir alle haben unsere Partner entsprechend gewählt, damit wir in unseren Grundfesten immer wieder – neben allem Glück, das wir mit ihnen erleben und teilen dürfen – auch erschüttert werden.

Mit dieser Einsicht sind wir frei, wieder auf unseren Partner zuzugehen mit der offenen Haltung: Natürlich bist nicht du schuld an meinem Elend, sondern die Quelle all meines Unglücks liegt in mir verborgen. Und danke, dass du immer wieder bereit bist, mir diesen schmerzlichen Spiegel vorzuhalten. Deswegen habe ich dich gewählt, das ist deine Aufgabe. Mit dieser inneren Haltung ist die Grundlage für einen Weg zur eigenen Heilung geschaffen, aber nur dann, wenn beide Partner sie teilen oder dazu bereit sind. Ich klage nicht an, fühle mich als Opfer, sondern ich bin meinem Partner bzw. meiner Partnerin dankbar, dass er/sie – je mehr sich unsere Liebesbeziehung vertieft – mir den Weg zu meiner eigenen inneren Urwunde aufzeigt.

Dann allerdings beginnt die eigentliche innere Arbeit mit sich selbst: Was tut mir gut, was braucht mein Körper, um aus diesem alten Trauma und Schock zu erwachen, was brauche ich für meine Heilung? Das herauszufinden ist meine Aufgabe, nicht die des Partners. Und vielleicht bin ich ihm oder ihr gegenüber einfach nur dankbar, dass er/sie mich nicht verlässt, trotz meiner irrationalen, irren Ängste und Empfindungen. Und wenn beide Partner in einer Beziehung zu diesem Schritt fähig sind, dann dürfen wir uns immer und jederzeit dem anderen zumuten, mit allen unseren verrückten Gefühlen. Denn wir wissen beide: Was jetzt geschieht, gilt nicht meinem Partner/ meine Partnerin, sondern ursprünglich meiner Mutter oder meinem Vater. Der Partner bzw. die Partnerin ist nur der Auslöser.

Wichtig dabei ist, zu betonen: Die Eltern selber sind natürlich auch nicht schuld an meinem Elend, denn sie selber waren Gefangene in einem System, das Mutter und Baby, Vater und Kleinkind voneinander trennt – Seit Tausenden von Jahren. Wir alle sind in diesem Irrsinn gefangen, nur wird es in Familie X ein bisschen anders ausgedrückt und übergeben als in Familie Y oder Z. Wir alle sind in diesem Irrsinn gefangen. Nur gemeinsam finden wir einen Ausweg. Und eine Partnerschaft ist „der Königsweg“, um unsere Urwunden zu entdecken und um sie ausheilen zu lassen.„


Auszug aus dem Buch “Franz Renggli – Verlassenheit und Angst – Nähe und Geborgenheit”, erschienen im Psychosozial Verlag


Weiterlesen


Print Friendly, PDF & Email
(Visited 723 times, 22 visits today)