Durch die Verbannung der Natur aus unserem täglichen Leben entfremden wir uns nicht nur mehr und mehr von natürlichen Lebensabläufen, sondern auch von uns selbst. Wie befreiend kann es sein, sich viel, viel Zeit zu nehmen und einen besonderen Platz im Wald durch alle Jahreszeiten hindurch zu beobachten. Und auf diese Weise Stück für Stück ein Teil von ihm zu werden und die eigene innere Begrenzung aufzuheben.

In unserer Gesellschaft wird die Erfahrung natürlicher Rhythmen und Abläufe größtenteils aus dem alltäglichen Leben verbannt. Die meiste Zeit sind wir umgeben von Technik, Häusern und Autos und leben in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte ohne persönliche Beziehungen zu unseren Nachbarn. Wir wachsen inzwischen von Kindheitsbeinen an in einer digitalen Welt auf, einer Scheinwelt, die ihnen die Gelegenheit verwehrt, echte, sinnliche und sinnvolle Erfahrungen mit anderen Kindern, Erwachsenen und Tieren sowie mit ihrer natürlichen Umwelt zu machen. Eine Welt, in der es schwerfällt, das große natürliche Netz zu erleben, in das wir Menschen und damit auch jeder Einzelne von uns eingebunden ist. Ursprünglich in die Natur eingebunden. Unsere Geschichte als Spezies Mensch war dadurch gekennzeichnet, dass wir die meiste Zeit in einer sehr engen Beziehung zur Natur standen. Für den Großteil unserer menschlichen Existenz lebten wir als Jäger- und Sammlerverbände, die als enge Gemeinschaften den Rhythmen der Natur folgten. Das bedeutet, dass wir auf eine starke Naturverbindung angewiesen waren, um zu überleben. Ohne es wirklich zu studieren, lernten wir von klein auf, wo es welche Tiere, Pflanzen, Bäume und Steine gab und wann man sie auf welche Art und Weise nutzen konnte. Um Gefahren zu vermeiden und andere Tiere zu jagen, mussten wir sehr aufmerksam sein, im Moment leben und unsere Sinne schärfen. Wir waren jeden Tag in dem sich immer verändernden Zusammenspiel des Lebens aktiv eingebunden und entwickelten direkte Beziehungen zu all dem, was uns umgab. Diese Lebensweise war auch geprägt von einem engen Kontakt mit anderen Menschen, da wir in Kleingruppen wohnten und voneinander abhängig waren. In diesen Gemeinschaften lebten wir als Kreis zusammen, respektierten einander und teilten die Geschenke der Natur in Dankbarkeit miteinander – wohl wissend, dass sie nicht immer selbstverständlich zur Verfügung standen und alle aufeinander angewiesen waren. Diese Lebensweise ist unsere biologische Vergangenheit, und es ist noch nicht so lange her, dass wir aufgehört haben, so zu leben. Daraus wird verständlich, auf welche Weise unsere Bedürfnisse nach Beziehungen zu anderen Menschen und zu unserer Umwelt geformt wurden, und wie sehr wir ursprünglich dafür gemacht sind, mit der Natur verbunden zu sein, um zu überleben. Naturerfahrung ist also die Wurzel des „Baumes“ Mensch, und für lange Zeit waren wir so eng und tief mit der Erde verbunden, wie die Wurzeln einer alten Eiche.

Nicht nur Kinder brauchen Erfahrungen in der Natur

Zurzeit gibt es eine weltweit wachsende Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Beziehung zur Natur wiederentdecken und stärken. In fast allen Ländern der Erde erkennen verschiedenste Wissenschaftler, Pädagogen und vor allem Eltern, dass
es ihren Kindern gut geht, wenn sie viel Zeit draußen verbringen. Natur- und Wildnisschulen, Nachmittagsprogramme, Wildnis-Klassenfahrten und viele andere Projekte haben es sich zur Aufgabe gemacht, das „Natur-Defizit-Syndrom“ *, wie Richard Louv es vor einigen Jahren in seinem Buch „Last Child in the Woods“(Leseprobe der dt. Fassung) bezeichnete, durch starke und intensive Naturerfahrung aufzulösen.

„Je mehr Sinne beim Lernen beteiligt sind, desto besser prägt sich einem Kind die neue Erkenntnis ein. Das beste Spielmaterial bietet dabei die Natur. Wenn Kinder zum Beispiel mit Blättern spielen, tun sie das mit mehreren Sinnen gleichzeitig. Sie nehmen den harzigen Geruch wahr, fühlen die Blattadern, unterscheiden verschiedene Farbtöne, verändern die Form des Blattes durch Zerrupfen oder Falten. Kinder lernen also durch unmittelbares Erleben.“

Dr. Gerald Hüther

Es ist uns allen klar, was Natur bedeutet, aber wie ist es eigentlich mit dem Wort Erfahrung? Für lange Zeit ging es in der Bildung und auch in der Umweltbildung um die Weitergabe von Wissen und Informationen. Die Kinder waren zwar draußen, aber die Art und Weise des Naturerlebnisses war dem Klassenraum sehr ähnlich. Glücklicherweise gibt es in den letzten Jahren immer mehr Erkenntnisse, Projekte und Veröffentlichungen, die uns zeigen, dass Lernen am besten durch Erfahrung vor Ort stattfindet. Aber nicht nur Kinder brauchen Hilfe, sich allmählich wieder der Natur zu nähern. Auch viele Heranwachsende und ältere Menschen sind durch den Alltagstrott so weit entfernt davon, sich überhaupt erinnern zu können, wie ein Sternenhimmel im Winter oder im Sommer aussieht, welche Tierlaute wie zu verstehen sind. Oder ganz einfach dem Summen von Bienen und dem Rascheln und Schmatzen eines Igels zuzuhören. Es ist also wichtig, Naturphänomene ganzheitlich wahrzunehmen, anstatt viel über sie zu wissen. Beim Entdecken einer Tierspur im Wald geht es darum, jede kleine Nuance zu erkennen, den Boden zu fühlen, um Rückschlüsse auf das Gewicht des Tieres zu ziehen. Wenn ich beispielsweise einem Fuchs auf der Spur bin, dann werde ich dieser Spur folgen und versuchen, meinen Geruchssinn aufmerksam zu halten. Meine Sinne, das heißt „meine Leitungen“, verknüpfen sich mehr und mehr mit dem Phänomen im Außen, und für einen Augenblick verschmelze ich mit dieser Erfahrung. Nach einiger Zeit merke ich, dass ich Veränderungen der Geschwindigkeit in der Spur wahrnehme, ohne viel Wissen über die Gangarten des Tieres zu haben. Ich merke, wie das Tier plötzlich langsam wurde und stehen blieb, und als ich mich nun umblicke, befinde ich mich kurz vor einer Lichtung, und plötzlich spüre ich die Anspannung und die Vorsicht, die das Tier hier wahrscheinlich empfand. Gleichzeitig entdecke ich Fraßspuren und weitere Pfade im Wald. So entsteht vor meinem geistigen Auge eine ökologische Karte, und Stück für Stück findet erfahrungsbasiertes Lernen statt. Wenn ich also gleichzeitig alle meine Sinne einsetze und vor allem eine fragende Haltung einnehme, dann verbindet sich meine Erfahrung mit dem ganzen Netz des Waldes. Anstatt mich mit theoretischem Wissen zufrieden zu geben, habe ich nun eine direkte Beziehung zu allen Dingen um mich herum aufgebaut.


Wieder auf die Sprache des Waldes hören


Ein anderes ganz praktisches Beispiel für die Auswirkungen von intensiver Naturerfahrung kann anhand der Vogelsprache verdeutlicht werden. Es ist eine Sache, viel Wissen über einen Vogel und seine Eigenschaften anzuhäufen, eine ganz andere Erfahrung ist es aber, seine Lebensweise so lange zu beobachten, bis ich anhand seiner Rufe, seiner Gestik und seines Verhaltens etwas über seinen Gefühlszustand sagen kann. Wenn ich mich für längere Zeit nur einem für mich besonderen Stück Wald widme (und dieser Bereich kann sehr klein sein), dann fallen allmählich immer wiederkehrende Muster in der Natur auf. Die unter allen Lebewesen bestehenden Beziehungen werden hör-, spür- und riechbar. Eines dieser Muster könnte zum Beispiel sein, dass ich den Ruf der Kohlmeise kennenlerne, wenn sie eine Gefahr aus der Luft wahrnimmt. Am Anfang meiner Reise in die Natur ist es mir gar nicht aufgefallen, dass es einen solchen Ruf überhaupt gibt. Doch jetzt, nachdem ich die Meise viele Stunden beobachtet habe, fällt es mir leicht, diesen markanten hochtönenden Ruf zu erkennen. Es geht sogar so weit, dass ich wieder – wie beim Verfolgen der Spur – ihre Anspannung und die Alarmbereitschaft spüre und mich blitzschnell nach der Gefahr aus dem Himmel umsehe. Als ich nach oben blicke, fällt mir ein vorbeifliegender Habicht auf, und ich bin nicht wirklich überrascht von seinem Besuch. Nein, eher freue ich mich, dass ich mit meinen Sinnen die subtilen Nachrichten der Sprache des Waldes verstanden habe.

Langzeitwirkungen


Durch die wiederkehrenden Erfahrungen und die Sensibilisierung der Sinne entwickeln Menschen über kurz oder lang eine beschützende und erhaltende Einstellung gegenüber der Natur. Sie erleben eine starke emotionale Bindung zu den Lebewesen und haben erfahren, dass es eine Art „dynamisches Gleichgewicht“ in der Natur gibt. Dieses Gleichgewicht verändert sich ständig, und jeder einzelne Organismus spielt dabei seine ganz eigene und unersetzbare Rolle. Es ist die durch nichts zu ersetzende Erfahrung, dass sich jeder Schritt, jede schnelle Bewegung und jeder Wettereinfluss direkt auf dieses Gleichgewicht auswirken kann. Langsam kann sich daraus das Bedürfnis entwickeln, zu Hütern dieses Lebensraumes zu werden – und die Bewahrung der Natur wird zur Herzensangelegenheit.

Eine weitere Langzeitwirkung ist der Anstieg von Energie und Ausstrahlung. Wenn unsere „Leitungen“ der Sinne ständig stärker werden und wir intensive Erfahrungen zulassen, so steigert sich natürlich auch unser Potenzial an Freude, Kreativität und Vitalität. Ich habe beispielsweise
Jugendliche gesehen, deren Neugier und Lebenslust schon in jungen Jahren fast erloschen waren. Ihr ganzer Körper strahlte Lustlosigkeit aus und das Funkeln in ihren Augen war nicht mehr zu sehen. Dieselben Jugendlichen waren nach einiger Zeit regelmäßiger und intensiver Naturerfahrung erfüllt von Neugier und Lebensfreude. Sie hatten eigene Ideen für Naturabenteuer, und keine Spur, kein Rätsel ließ sie unberührt. Ihre ihnen innewohnende Neugier wurde wieder geweckt und natürlich waren diese Heranwachsenden dann auch in allen anderen Bereichen des Lernens viel besser. Dadurch, dass sie selber wieder Lust am Entdecken, Ausprobieren und Kreieren hatten, fiel ihnen das Lernen an sich leichter. Die Fähigkeit, durch Sinnesschulung im Moment zu sein und seine Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu haben, ist eine Gabe, mit der wir auf die Welt kommen. Durch das sinnliche Erleben des Augenblicks in der Natur erlangen wir diese wichtige Fähigkeit zurück. Es sollte der Wunsch eines jeden sein, wieder wie die Kinder zu werden, um sich durch den Dialog mit der Natur langsam aber stetig wieder geistig zu verjüngen.

Innere Spurensuche

Als eine weitere Wirkung von Naturerfahrung sind Prozesse zu nennen, die in den Beziehungen zu anderen und zu sich selbst stattfinden. Wie bereits angesprochen erleben wir das Gefühl von Gemeinschaft und wechselseitiger Abhängigkeit, wenn wir uns auf die Natur „einlassen“.
Menschen, die diese Erfahrung immer wieder machen, verändern allmählich auch die Beziehung zu sich selbst. Die geschulten Sinne und die steigende Aufmerksamkeit im Außen richten sich nun nach innen. Eigene Muster werden besser erkannt, und es kann ihnen wie Spuren im Schnee auf den Grund gegangen werden – es beginnt eine innere Spurensuche. Dieser Prozess des Wiedererwachens ähnelt dem Schälen einer Zwiebel, in dem wir uns Schicht für Schicht unserem eigenen, inneren Kern nähern und unser natürliches Selbst wieder zum Vorschein kommt. Wir entdecken, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wir als automatisierte Gewohnheiten aus unserer Vergangenheit mit uns herumtragen und unserem spontanen und kreativen Anteil, der im Moment lebt und Neugier, Gefühlsverbundenheit und Vertrauen kennt. Wir dringen immer tiefer vor in unser ganz eigenes Potenzial, in unseren eigenen „Urwald“. Unsere persönlichen Geschenke und Talente kommen unter diesen Schichten hervor und damit auch das Bedürfnis, seine persönliche Gabe mit der Gemeinschaft zu teilen. Sich selber in den Dienst des großen allumfassenden dynamischen Gleichgewichts der Natur und seiner Gemeinschaft zu stellen, wird zu einer Erfüllung und Antriebskraft, die das eigene Leben beeinflusst und vor allem bereichert. Nach all diesen Erfahrungen und dem „neuen“ Bewusstsein für sich selber, seine Gemeinschaft und die Natur, ist klar geworden, dass Geben und Erhalten das Gleiche ist und es keine Trennung zwischen ihnen gibt. Da alles miteinander verbunden und der Mensch Teil des großen Kreises ist, heben sich die Grenzen zwischen mir und den anderen, mir und der Natur auf, und das Ausleben der eigenen Vision und das Geben meiner Talente werden zur Erfüllung und treibenden Kraft für den weiteren Weg.


Gefühl der Richtigkeit

Es ist klar, dass nicht vollständig aufgezeigt werden kann, welch weitreichende Auswirkungen Naturerfahrungen auf den Menschen haben. Nur das Erleben kann uns etwas lehren. Sein Sinnesapparat ist dafür konstruiert worden, in das Netz der Natur eingebunden zu sein. Das permanente, subtile und vielfältige Reizspektrum der Natur unterstützt dabei die volle Entwicklung des menschlichen Potenzials und damit seine ganz persönliche Entwicklung. Wir alle kennen das Gefühl der Gelassenheit und des Friedens, wenn wir Zeit in der Natur verbringen. Dieses Gefühl der Richtigkeit und des Wohlfühlens ist neben den vielen wissenschaftlichen Quellen ein erfahrbarer Hinweis für die Notwendigkeit von Naturverbundenheit. Mithilfe all dieser auf natürliche Weise erworbenen Erkenntnisse können wir Entscheidungen treffen, die für die kommenden Generationen hilfreich sind. Indem wir selber für uns sorgen und unsere natürlichen Sinne wieder mehr schärfen, sind wir das beste Vorbild für unsere Kinder und Kindeskinder. Wir können uns gegenseitig dabei unterstützen, all unsere Sinne, Kreativität, Neugier und Persönlichkeit in unser Leben zu integrieren. So werden wir unseren Platz im Leben besser finden und erkennen, dass wir Teil einer großen Gemeinschaft sind, die so viel älter ist als wir selber. Die Natur hat uns gezeigt, dass jedes Lebewesen einzigartig und besonders ist. Mit diesem Vertrauen und dieser eigenen Wertschätzung machen wir uns alle – Kinder wie Erwachsene – auf den Weg, uns voll zu entfalten.

erschienen in Natur & Heilen 10/2013

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