„Sie haben mich alle erzogen. Alle halfen dabei. Meine Tante hat mich erzogen; mein Vater und meine Mutter haben mich erzogen; meine Großmutter hat mich erzogen.“
(Nisa, !Kung San Frau, 1900)
Zuerst erschienen im unerzogen Magazin.
Die Mehrheit der Erwachsenen ist in dem zurzeit klassischen Modell der Kernfamilie aufgewachsen, in dem sich zwei Erwachsene, die Eltern, um die „Erziehung“ ihrer Kinder kümmern. Manchmal leben Onkels, Tanten oder Großeltern noch so nah, dass sie die Eltern unterstützen, allerdings können konträre Ansichten über Erziehungsstile dazu führen, dass es keine gemeinsame Basis gibt und damit auch keine Unterstützung. Immer häufiger leben die Eltern nicht in einer Partnerschaft und so ist einer von beiden alleinerziehend. Damit sind die Eltern oder sogar nur ein Elternteil in der Hauptverantwortung, alle Bedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen.
Diese Situation ist unbefriedigend, da ein Kind mit bestimmten Erwartungen auf die Welt kommt. Auch wenn Eltern sich in ihrer Präsenz und Bewusstheit ihrem Kind gegenüber üben, bleiben in dieser Kernfamiliensituation immer Bedürfnisse unbefriedigt. Eventuell sind die Eltern nach einiger Zeit frustriert, unzufrieden und gestresst und die Kinder bedürftig, unruhig, und sie verlieren das Vertrauen, dass für sie gesorgt sein wird. Ein Teufelskreis beginnt, in dem das Eingehen auf die Bedürfnisse der Kinder immer ein Defizit der eigenen Bedürfnisbefriedigung mit sich bringt. Das führt auf lange Sicht dazu, dem Kind nicht mehr das geben zu können, was es braucht. Diese Einsicht ist schmerzhaft und für beide oder die ganze Familie unbefriedigend. Erfahrungsgemäß wird daraufhin häufig an Kommunikation, Wohnsituation oder der persönlichen Entwicklung gearbeitet. Das sind ohne Frage wichtige Schritte hin zu einer zufriedenen Familie. Jedoch fehlt oft der Blick auf das ganze System und dessen Struktur.
Die Erwartungen des Kindes
„Wenn wir, ganz willkürlich, den Beginn der Menschheitsgeschichte vor einer Million Jahren ansetzen, dann waren wir während 99 % dieser Geschichte alle Jäger und Sammler…. Wo man auf Jäger und Sammler trifft, leben sie in kleinen Gruppen zusammen (typischerweise 20 bis 50 Personen inklusive der Kinder), die innerhalb großer und doch umgrenzter Gebiete von Ort zu Ort ziehen, wobei sie dem verfügbaren Wild und der Vegetation folgen. Ihre gesellschaftlichen Grundwerte, wie sie von nahezu allen Forschern, die sich mit ihnen beschäftigt haben, beschrieben werden, sind Freiheit, Teilen und Gleichberechtigung. Im Allgemeinen besitzen wir diese Werte in modernen demokratischen Kulturen.“
(Peter Gray, Trustful Parenting, Vortrag in Berlin 2012)
Der Mensch hat die meiste Zeit seiner Existenz als Jäger und Sammler gelebt. Wer dieser Spur nachgeht, dem wird schnell klar, dass ein Kind unbewusst davon ausgeht, dass es in einen Clan geboren wird, in dem es viele Erwachsene und Kinder verschiedenen Alters gibt, die sich um das Wohl des Kindes kümmern. Für 99 % der Menschheitsgeschichte hat sich „ein ganzes Dorf“ um die Bedürfnisse der Kinder gekümmert, und diese hatten Tag und Nacht die gleichen Spielkameraden, mit denen sie aufwachsen und lernen konnten. Zusätzlich hatten diese Clans ein gemeinsames Verständnis über die Begleitung ihrer Kinder und schufen so einen sehr halt gebenden Rahmen. Dieser Clan gab den Eltern die Möglichkeit, weiterhin ihren Aufgaben im Leben nachzukommen und somit ihr Talent in die Gemeinschaft einzubringen. Das half ihnen dabei, selbst zufrieden und ein lebendiges Vorbild für die Kinder zu sein, und gleichzeitig konnten sie aus einem Zustand der Fülle und Erfülltheit besser auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen. Die Kinder konnten enge und vertrauensvolle Beziehungen zu verschiedenen Erwachsenen und Kindern aufbauen und genossen so die Vielfalt verschiedener Vorbilder und Spielkameraden. Anstatt gleichaltriger Gruppen gab es gemischte Gruppen, in denen es weniger Konkurrenz gab und die Kinder durch freies Spiel lernen konnten. Die Großeltern zum Beispiel konnten ihre Erfahrung in der Kindererziehung einbringen, da sie selbst andere Verantwortungen im Clan trugen und damit auch mehr Zeit hatten und so den Eltern die Möglichkeit gaben, Zeit für sich und ihre Aufgaben zu haben. Somit trugen alle zu einem Großen und Ganzen bei und anstelle von Bedürftigkeit war es möglich ein Umfeld der Fülle zu erschaffen. Dieser kleine Exkurs in die Vorgeschichte soll helfen zu verstehen, warum die Antwort auf viele Erziehungsprobleme in der westlichen Struktur von Familie liegt. Für Eltern, die sich in den oben beschriebenen Problemen wiederfinden und ein gemeinschaftlicheres Leben wünschen ist es wichtig und dringend notwendig, sich auf den Weg zu machen, einen Clan zu gründen.
Erfahrungen in clanähnlichen Camps
Was passiert, wenn sich Familien und Singles zusammenfinden, um den Kindern und sich selbst ein gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen? In den letzten Jahren habe ich viele Projekte begleitet, in denen Menschen sich für eine Woche oder sogar einen Monat zusammenfanden, um genau dieses Clanleben wiederzuerwecken. Immer wieder ist es ein Kulturschock für die meisten, wenn sie nach einer gewisser Zeit merken, dass sie Unterstützung und Halt angeboten bekommen. Bei einem dieser Projekte, dem Wild Moon lebten wir für einen Monat in der schwedischen Wildnis und imitierten das Leben eines Jäger-und-Sammler-Clans. Wir haben uns dafür entschieden, diese einmonatigen Erfahrungen auch für Familien zu öffnen und haben in den letzten Jahren viele Erfahrungen damit gemacht. Sobald Eltern bereit waren, sich darauf einzulassen, nicht mehr alle Bedürfnisse ihres Kindes selbst stillen zu müssen, sondern auch andere „Clanmitglieder“ übernehmen können, tritt der oben genannte Kulturschock ein. Plötzlich fällt eine große Last von den Eltern ab. Zum Beispiel gab es eine Familie mit einem Kind, das sie regelmäßig mit Stoffwindeln wickelten. Mehrere Male am Tag gingen sie zu dem dafür vorgesehenen Platz auf der Insel, um die Windeln zu waschen. Nach einigen Tagen, in denen auch der Unmut der Eltern über das häufige Waschen und Hin- und Hergehen geäußert wurde, kam die Frage auf, warum es nicht Aufgabe der ganzen Gruppe sei, für saubere Windeln zu sorgen. Anfänglich schien es für die beiden Eltern fast unmöglich so zu denken und mit der Zeit halfen auch Kinderlose oder andere Eltern mit, um für das Wohl des Kindes zu sorgen.
„Zeit für sich“ entstand oft dann, wenn sich Gruppen bildeten, die Aktivitäten wie dem Sammeln von Beeren oder dem Erkunden der Gegend nachgingen. Die Kinder konnten sich aussuchen, welcher Aktivität sie nachgehen wollten und verbrachten so Zeit ohne die Eltern. Das waren oft neue Momente für die Eltern, da sie nun mit der Situation konfrontiert waren, nachzuspüren, wie sie ohne kindliche Pflichten ihren Tag verbringen wollten. Das stellte häufig einen weiteren Kulturschock dar. Langsam durch die Unterstützung des Clans, findet eine Rückverbindung zu den persönlichen Interessen statt und damit wächst die Zufriedenheit. Kommen die Kinder von ihren Ausflügen mit anderen Erwachsenen zurück, erwartetet sie oft ein freudiges und erfülltes Elternteil wieder. Gerade hier liegt für Alleinerziehende ein großes Potential wieder mehr Entspannung und eigene Fülle zu bekommen. Sich mit Leuten zu umgeben, die sich aktiv für das gemeinsame Begleiten der Kinder („Co-Parenting“) entscheiden und somit für Entlastung sorgen, sind Gold wert. Eine wichtige Rolle für Clans nehmen Singles und Kinderlose ein. Kommen nur Familien zusammen entsteht schnell wieder eine Situation, in der die Aufmerksamkeit und Zeit der Erwachsenen nicht ausreicht, um ein Leben im Gleichgewicht zu erschaffen. Erwachsene ohne Kinder können den ganzen Clan unterstützen und damit für Entlastung sorgen. Außerdem können sie so ihre ersten Erfahrungen im „Eltern-Sein“ machen und lernen allmählich, wie es sich anfühlt, Eltern zu sein und was eine Familie braucht.
Das Beispiel der Artgerecht-Camps
Ein Vorteil des Clanlebens ist die Möglichkeit, auf verschiedene Vorbilder und Impulse zu stoßen. Durch das Beobachten wie andere miteinander umgehen, können Eltern neue Ideen für den eigenen Umgang mit ihren Kindern bekommen. In den „Artgerecht-Camps“ 2012 haben wir in ein einwöchiges und naturnahes Clanleben auch Austauschrunden und Themenkreise integriert. Dieser Austausch erwies sich als sehr wertvoll, da Eltern die Chance hatten, verschiedene Perspektiven auf persönliche Anliegen zu bekommen. Im besten Fall war es sogar möglich, diese neuen Perspektiven dann gemeinsam in den Alltag zu integrieren.
Ein Beispiel aus einem anderen Familiencamp ist eine Familie mit zwei Kindern, deren eines Kind sich häufig jammernd auf den Boden setzte, um so ein Eingreifen des Vaters zu erwirken, obwohl das Befriedigen seines Bedürfnisses auch in seiner eigenen Kompetenz lag (z. B. zum Versammlungskreis zu kommen, wo wir ein Spiel spielten). Das Kind weinte dann und schien hilflos, woraufhin der Vater oder die Mutter fast automatisch das Kind aus dieser misslichen Lage „rettete“ und es zum Kreis trug. Nach vielen Variationen der gleichen Dynamik in der Woche gab es, wie mit allen Eltern, ein Gespräch über persönliche Anliegen und Themen. Die Mutter des Kindes interessierte sich dafür, wie sie ihr Kind unterstützen könnte und nach einem gemeinsamen Austausch schlugen wir vor, dem Kind in Zukunft die Möglichkeit zu geben, selber die Initiative zu ergreifen, wenn es möglich war. Es war manchmal schwer für die Mutter in den kommenden Tagen Situationen auszuhalten, in denen das Kind es gewohnt war, gerettet zu werden, das Kind eher darin zu unterstützen, selber Verantwortung zu übernehmen und zum Beispiel zu uns in den Kreis zu kommen. Dazu ist wichtig zu sagen, dass wir dabei auch immer beim Kind blieben, um ihm emotional Beistand zu leisten. Es war sehr erstaunlich zu sehen, wie es ihm in kurzer Zeit gelang, selber die Initiative zu ergreifen und sich das zu holen, was es wollte und dafür auch zum Beispiel eine Strecke zurücklegte. Stück für Stück war es so möglich, aus der hilflosen Haltung herauszukommen und mit Freude an der Gemeinschaft teilzunehmen. Dafür brauchte es die gemeinsame Wahrnehmung und die gemeinsame liebevolle Unterstützung der Eltern und des Kindes. Nicht nur in diesem Fall sind Eltern oft sehr dankbar für die Perspektive von außen, da sie sich in oft wiederholenden Dynamiken befinden, die sie selber nicht mehr überblicken. Wenn dann mit einer Offenheit und einem Vertrauen eine Kultur entsteht, in der ehrliches Feedback wertgeschätzt wird, hilft dieser Austausch enorm dabei, ein ausgeglicheneres Leben in Gemeinschaft zu führen.
Die Entstehung einer Kinderkultur
Kinder sind „Selbsterziehungsexperten“ titelt Peter Gray, Professor für Psychologie, der verschiedene Jäger und Sammlerkulturen studierte und schaute, wie die Kinder sich das enorme Wissen aneigneten. Immer wieder wurde dabei klar, dass Kinder im Spiel miteinander und durch Imitieren der Erwachsenen lernen. In einem Clan, in dem es eine Gruppe von Kindern in verschiedenen Altersstufen gibt, kann eine Kultur entstehen, die eigenständig ist. Unter den aufmerksamen Augen der Erwachsenen können die Kinder von und miteinander lernen. Nur nach Bedarf ziehen sie Erwachsene zu Rate, da sie Freude darin finden, selbstständig zu lernen und zu wachsen. In einem der Wild Moons fingen die Kinder nach einiger Zeit an, selber zu kochen und nach einem eigenen Kochtopf zu verlangen. Also entstand eine Feuerstelle für die Kinder, wo sie kochen, schneiden und Feuer machen konnten. Sie fühlten sich damit sehr ernst genommen und wertgeschätzt und baten nur nach Bedarf um Hilfe, die ihnen gern gegeben wurde. Dieses selbstermächtigte Leben unterstützt Kinder zu kooperieren, Rollen zu finden, Konflikte zu lösen und Verantwortung zu übernehmen, und es entsteht keine unnötige Abhängigkeit zu den Erwachsenen. Natürlich schaffen sich die Erwachsenen Zeit für eigene Aktivitäten, wenn die Kinder für sich selber sorgen, wo es ihnen möglich ist. Die Kinder konnten mit den Erwachsenen essen oder kochen, wenn sie wollten. Es war eine phänomenale Entwicklung besonders deshalb, weil die Kinder nun nicht mehr wegen des Essens beschwerten, sondern sich über ihre selbst zubereiteten Gerichte freuten und stolz waren.
Mut zur Gemeinschaft
Es ist meine Erfahrung, dass sehr viele Menschen sich nach Gemeinschaft sehnen, besonders Familien und alleinerziehende Eltern spüren schnell die Dringlichkeit von helfenden Händen und anderen Kindern. Gerade wenn es darum geht, die Kinder wachsen zu lassen, wird schnell klar, dass es dafür auch einen passenden Rahmen braucht. Spannenderweise ist all das nichts Neues, sondern eine Rückkehr zu dem, was Menschen ursprünglich sind. Kinder sich selber unterrichten zu lassen, war die Art und Weise vieler naturnaher Kulturen, mit ihren Kindern umzugehen. Sie taten das für hunderttausende von Jahren in dem Wissen, dass es funktioniert. Wer zu dieser natürlichen Art und Weise zurück kehrt, dem wird klar, was es dafür früher wie auch heute brauchte: Einen Clan. Unsere Kinder ermutigen uns dazu, diese alten und erprobten Dinge wieder in die Hände zu nehmen, um sie für unser modernes Leben zu adoptieren. Und das Fundament dafür ist die Gemeinschaft.