Über die Verbundenheit zur Natur, über indigenes Wissen und die eigene Prägung
von Bastian Barucker
Der folgende Text ist ein Exklusiv-Abdruck meines Kapitels aus dem Buch „Perspektiven für den Wandel – Wege menschlicher Entwicklung zu Freiheit und sozialer Verantwortung„, welches 27 Autoren die Möglichkeit gab, Ideen, Perspektiven und zukunftsweisende Projekte vorzustellen: „Es geht um eine Neuorientierung in Bildungswesen, Kulturbetrieb, Gesundheitsbereich und Landwirtschaft, um Wege zu einer wirklichen Demokratisierung der Gesellschaft, um neue Perspektiven für eine bedarfsorientierte, assoziative Wirtschaft, eine Justiz im Geiste der Gewaltenteilung und – last but not least – um das Denken selbst, die Reflexion des eigenen geistigen Standortes und die achtsame Verbundenheit in gesellschaftlichen Zusammenhängen.“
„Entwurzelung ist die schlimmste Krankheit unserer Zeit“, schrieb die jüdische Philosophin Simone Weil schon vor 80 Jahren. Diese naturbezogene Wurzelmetapher möchte ich aufgreifen, um nach einer Beschreibung aktueller Entwurzelungsprozesse Möglichkeiten für eine individuelle Wiederverwurzelung zu entwickeln. In meiner persönlichen Spurensuche nach der ursprünglichen Lebensweise des Menschen vollzog sich meine Entwicklung auf zwei Ebenen. Da war erstens die Suche nach indigenen Weisheiten eines Lebens in enger Verbundenheit mit der Natur und deren Bezug zu unserem modernen Leben. Bei meiner Spurensuche erforschte ich zudem den Ursprung wiederkehrender leiderzeugender und generationsübergreifender Muster aufgrund von frühkindlichen Erfahrungen. Derartige Muster erkannte ich in mir selbst und durfte sie auch als Begleiter anderer Menschen hautnah erleben.
Beide Lernreisen sind im Grunde der Versuch, Wahrheit oder Ursprünglichkeit zu ergründen und am eigenen Leib zu spüren, denn „um gesund zu bleiben, geht es nicht nur darum, die richigen Informationen zu hören oder die richtige Meinung zu haben. Letztlich geht es darum, Beziehungen wiederherzustellen.„
Auch wenn es aufgrund unseres heute allgemein technologisierten und schnelllebigen Lebensstils fast absurd erscheint, ist der Mensch in seiner Geschichte doch die meiste Zeit jagend und sammelnd in Gemeinschaften lebend organisiert gewesen. Zu seinem Alltag gehörte eine permanente Verbundenheit zu den ihn umgebenden Tieren, Pflanzen, Elementen und Menschen und zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Aus dieser direkt erfahrenen Verbundenheit mit der Erde erwuchs ein Bewusstsein dafür, dass in der Natur alles miteinander in Beziehung steht.
Die Vermutung liegt nahe, dass diese Lebensweise eine starke örtliche und kulturelle Verwurzelung mit sich brachte, so wie sie die indigene Autorin Dr. Jeanette Armstrong beschreibt: „Wenn ich über mein Leben nachdenke, denke ich daran, wie das Land mir mein Leben geschenkt hat. Ohne das Land der Okanagan, ohne das Volk der Sylix und all die Verwandten, die auf diesem Land leben, ohne jedes einzelne Ding, das mein Volk aufrechterhält, wie Nahrung, Medizin, Kleidung und Obdach, ohne all die Dinge, die uns umgeben, die mich umgeben, wäre ich nicht.“
Wichtig zu erwähnen ist dabei, dass indigenes Leben fast ausnahmslos in Gemeinschaft stattfand. Neben der engen Anbindung an die Erde war der Mensch eingewoben in ein dichtes Netz menschlicher Beziehungen, die sein Überleben sicherten. Der Clan, die Gruppe oder die Sippe waren Halt gebender Bezugsraum und die Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv von größter Bedeutung. Aus der eigenen Erfahrung mehrerer, teils einjähriger Aufenthalte in der Wildnis Nordamerikas und Skandinaviens glaube ich erahnen zu können, welch hohen Stellenwert die menschlichen Beziehungen in ursprünglichen Gesellschaften haben. Das „Funktionieren“ der Gruppe ist meiner Einschätzung nach die wichtigste Wildnisfertigkeit überhaupt. Eine Gruppe von Menschen vereint immer verschiedene Qualitäten und Perspektiven.
Diese Vielfalt ist eine wichtige Voraussetzung, um in der Wildnis nicht nur zu überleben, sondern gut leben zu können. Jedoch gelingt dies nur dann, wenn die zusammenlebenden Menschen es mittels aufrichtiger und respektvoller Kommunikation schaffen, Konflikte zu lösen und ihre jeweiligen Wahrheiten auszusprechen. In dieser fast banalen Einsicht steckt möglicherweise ein wichtiges Puzzleteil hinsichtlich des gebotenen Wandels moderner Gesellschaften, obwohl ein Vergleich mit diesen alten Organisationsformen teilweise schwierig ist.
Die Qualität der Beziehungen eines Kollektivs hat offenbar einen Einfluss darauf, wie krisenfest und vertraut es an gemeinsamen Projekten arbeiten kann. Eine Gruppe mit viel ungeklärtem „Ballast“ wird sich mittelfristig gezwungen sehen, sich immer wieder mit viel Zeit und Energie den schwelenden Konflikten zu widmen. Das geschieht besonders dann, wenn die unter den Konflikten liegenden Gefühle und Prägungen nicht erkannt und auch nicht integriert werden können.
Daher bin ich der Ansicht, dass im Werkzeugkoffer des Wandels Lernräume für ehrliche und direkte Formen der Kommunikation enthalten sein sollten, so jedenfalls gestaltete es sich in den Wildniserfahrungen, die ich selber erlebte und anleitete.
Diese – bestimmte Kulturtechniken voraussetzende – Qualität des ursprünglichen Zusammenlebens in natürlicher Umgebung scheint im Gegensatz zur westlichen Perspektive zu stehen: In den Industriegesellschaften hoffen einige, in der Natur endlich allein und fernab von anderen Menschen Ruhe finden zu können.
Egal ob gemeinschaftlich oder alleine, die direkte Naturerfahrung wirkt auf den Menschen ein, indem sie Verbundenheit ermöglicht. Wichtig zu unterscheiden ist dabei die rein kognitive Erkenntnis von der wiederholt gemachten Erfahrung dieser Verbundenheit. Ein Mensch, der hauptsächlich Informationen über die Natur anhäuft, ihr jedoch nur selten intensiv und ganzheitlich begegnet, hat wenig Möglichkeiten, seine Seele und sein Herz von der Kraft dieser alten Verbindung zur Erde berühren zu lassen.
Auf der anderen Seite sind die gesundheitsfördernden und werteverändernden Auswirkungen eines regelmäßigen Draußenseins sogar messbar und finden Anwendung zum Beispiel in heilenden Gärten, im sogenannten Waldbaden oder in naturtherapeutischen Angeboten für Jung und Alt. Meine persönliche Erfahrung hat mir gezeigt, dass Menschen, die Natur langsam wieder als einen begreifbaren, wunderschönen Ort kennenlernen, sich auf verschiedene Weise verändern. Dazu zählt oftmals die allmähliche Entwicklung der Frage, was im Leben eigentlich wirklich wichtig ist, oder die Entwicklung eines kritischen Blicks auf die vermeintlich hochentwickelte, dabei jedoch stark vereinzelnde Lebensweise moderner Gesellschaften. Fast immer entsteht aus den gemeinschaftlichen Erlebnissen in der Natur auch ein starker Wunsch, wieder in einer Form von Gemeinschaft zu leben und so an die uralte Qualität des „Clanlebens“ anzuknüpfen.
Mehr Naturverbindung und mehr Gemeinschaft sind also Wünsche, die aufkommen, wenn Menschen sich erfahrungsbasiert einer ursprünglichen Lebensweise annähern. Dieses Begehren erscheint höchst verständlich, weil eben diese beiden Aspekte das Fundament unserer Geschichte als Menschen bilden: es sind unsere Wurzeln! Mit dem Blick auf einen möglichen gesellschaftlichen Wandel scheint es von großem Wert zu sein, wenn Menschen gemeinschaftlich und mit der Natur verbunden leben können. An ihnen lässt sich erfahren, was genau Wiederverwurzelung ermöglicht.
Die moderne Lebensweise
Die Annahme, irgendwie Kontrolle über die Natur und ihren zyklischen Lauf ausüben zu können, ist Teil unseres neuartigen, gerade mal zehntausend Jahre alten Experiments eines Lebens fernab des primitiven Jagens und Sammelns. Wahrscheinlich beginnend mit der Landwirtschaft, hat sich die Idee, die Natur zu beherrschen, immer mehr zu einem befremdlich anmutenden Kontrollwahn zugespitzt. Entstanden ist eine Industriezivilisation, die versucht, so viele Lebensbereiche wie möglich zu kontrollieren, darunter die Verbreitung von Atemwegserregern oder das hoch komplexe, sich natürlicherweise wandelnde Klima.
Der hierfür aufgebaute Kontrollapparat schafft eine Illusion der Macht. Herrschaft durch Macht ist eine Metapher, eine Art und Weise des Umgangs, welcher in der Beziehung des modernen Menschen mit der Mutter Erde zu finden ist (die allerdings gar nicht mehr als Mutter, sondern nur noch als Ressource wahrgenommen wird). Der Anblick einer düsteren, in Reihe angepflanzten Fichtenmonokultur, das Einsperren, Domestizieren und Schlachten ehemals wilder Tiere oder das gewaltsame Eindringen in die Erde, um ihre Schätze zu entziehen, sind nur drei Beispiele für eine geschädigte, Macht ausübende Beziehung, die westlicher Alltag ist.
Ein Blick auf indigene – insbesondere auf matriarchale – Kulturen zeigt, dass dort die Anhäufung von Macht und Besitz sozial geächtet war bzw. ist und es kulturelle Mechanismen gab bzw. gibt, die das zu verhindern wussten bzw. wissen. So wurden bzw. werden erfolgreiche Jäger bei den südafrikanischen Kung-San ein wenig gehänselt und aufgezogen, wenn sie mit dem Fleisch zum Lager kommen, um einer möglichen Selbsterhöhung oder Arroganz entgegenzuwirken. Anscheinend gab bzw. gibt es in solchen Gesellschaften ein weitverbreitetes Bewusstsein dafür, dass Ungerechtigkeit nicht dem Zusammenleben dient.
„Als die Tupinamba-Indigenen im sechzehnten Jahrhundert aus Brasilien nach Frankreich gebracht wurden, war der Essayist Montaigne bei ihrem Besuch bei König Karl dem Neunten anwesend. Als die Indigenen gefragt wurden, was ihnen an der europäischen Lebensweise am meisten auffiel, berichtet Montaigne: ‘Sie hatten beobachtet, dass es unter uns Menschen gab, die voll und vollgestopft mit allen möglichen Gütern waren, während (andere) an ihren Türen bettelten, mager und halb verhungert vor Armut; und sie fanden es seltsam, dass diese bedürftigen (Menschen) eine so große Ungleichheit und Ungerechtigkeit erdulden konnten, und dass sie den anderen nicht an die Gurgel gingen oder ihre Häuser anzündeten.“ (Ryan, Christopher, Civilized to Death, New York, 2019, S. 170)
Zu den wichtigen und wiederkehrenden Werten primitiver Kulturen zählen Selbstbestimmung, Souveränität und Freiheit. Nicht umsonst waren europäische Siedler so fasziniert, als sie mit eigenen Augen sahen, wie viel Rechte und Freiheiten z.B. die ursprünglichen Bewohner der „Schildkröteninsel“ (so die Bezeichnung einiger indigener Völker für die beiden Amerikas) hatten.
„Aus den Schriften der Anthropologen geht hervor, dass die Jäger und Sammler nicht passiv egalitär waren, sondern aktiv. Nach den Worten des Anthropologen Richard Lee waren sie sogar ‘ausgesprochen’ egalitär.“ (https://www.psychologytoday.com/us/blog/freedom-learn/201105/how-hunter-gatherers-maintained-their-egalitarian-ways)
Dies alles stand im starken Gegensatz zu den eigenen Erfahrungen der Siedler, die voll waren von Unterdrückung und Hierarchie. Die leider nur wenig bekannte Einflusstheorie beschreibt die starken Einflüsse indigener, nordamerikanischer Lebensweisen auf die europäische Aufklärung, darunter die Emanzipation der Frauen.
„Das moderne Europa entwickelte sich unter dem Einfluss unserer Ideen. Impulse aus dem Amerikanischen halfen mit, das göttliche Recht der Könige und des Adels in Frage zu stellen. Die Aufzeichnungen der Jesuiten gaben der Intelligenzia in Frankreich neue Nahrung, und unser Demokratiebegriff beeinflusste die französische Revolution. Ob Jean-Jacques Rousseau oder ein Jahrhundert später Friedrich Engels, sie erhielten geistige Anstöße von uns.
Im großen Gesetz des Friedens, der Verfassung der Haudenosaunee, ist die Freiheit der individuellen Meinungsäußerung eines der tragenden Prinzipien. Die heutige Pressefreiheit in Nordamerika und Europa ist eine Fortsetzung der Redefreiheit, die es vor Eurer Entdeckung Amerikas nicht gab. Ebenso wenig gab es bei euch Religionsfreiheit. Diese Gedanken der Freiheit kommen nicht nur aus dem Langhaus der Haudenosaunee, sie waren Bestandteil aller indianischen Stammesgesellschaften, sie waren an vielen Plätzen der Welt zu finden, nur nicht im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts. Es war der europäisch-indianische Kontakt, der eure Gesellschaft unterwanderte.“ ( John Mohawk, Botschaft an die Europäer. Vortrag gehalten im Juli 1980 beim Black Hills International Survival Meeting, Osnabrück, 2004, S. 6)
Ich könnte mir vorstellen, dass hinter dem Wunsch nach Macht und Herrschaft ein immenser und mit unserer natur-entfremdeten Lebensweise einhergehender Vertrauensverlust liegt: Menschen, die nicht wissen, dass sie von Mutter Erde oder der leiblichen Mutter versorgt werden, haben nicht die Möglichkeit, ein Urvertrauen zu entwickeln; sie bedienen sich in ihrer gefühlten Ohnmacht einer Bewältigungsstrategie, die in diesem Fall aus Macht und Kontrolle über andere besteht.
Die Perspektive indigener Lebensweise zeigt uns, dass der Mensch das Eingebundensein in die natürlichen Rhythmen sowie die Zugehörigkeit zu einer vertrauensvollen Gruppe braucht, um „artgerecht“ leben zu können. Projekte, Lernorte und Initiativen, die Menschen die Möglichkeit geben, diese Qualitäten am eigenen Leib zu erleben, fördern ein gesellschaftliches Erwachen zu der Frage, wie wir ursprünglich gelebt haben und wie wir dieses Erbe in unseren modernen Alltag integrieren können.
In meinem persönlichen Fall bedeutete es, dass ich in eine sehr ländliche Region zog, in welcher seit knapp 20 Jahren Menschen Verantwortung für ihr Leben und die mehr-als-menschliche Welt übernehmen und Strukturen schaffen, die ihnen ein erfülltes Leben ermöglichen sollen. Dazu gehören etwa ein selbstgegründeter Kindergarten und eine ebenso elterngestützte Schule, regelmäßig stattfindende Männer- und Frauenkreise, mehrere biologische Landwirtschaftsbetriebe, solidarische Landwirtschaften, regelmäßig stattfindende Rituale und Zeremonien, ein Chor sowie eine eng verbundene Nachbarschaft, die den Kindern des Dorfes die Möglichkeit gibt, relativ frei und trotzdem behütet das Leben zu entdecken.
Eine Idylle – in der es trotzdem genau die gleichen Konflikte gibt wie überall. Immerhin besteht hier jedoch im Großen und Ganzen der Anspruch, mit diesen mittels aufrichtiger Kommunikation bewusst umzugehen. Am Beispiel der Geburt meines Sohnes möchte ich deutlich machen, was gemeint ist, wenn ich dafür plädiere, alte, indigene Kulturelemente ins Hier und Jetzt zu integrieren. Gleichzeitig soll das Thema die Brücke zur zweiten Perspektive meines Beitrags sein.
Die frühkindliche Prägung
Ich wurde als Frühchen in einem DDR-Krankenhaus geboren und landete gleich nach der Geburt im sterilen Wärmebett, wo ich isoliert war von meiner Mutter. Nur durch jahrelange, sehr intensive Selbsterfahrung mithilfe der Gefühls- und Körperarbeit nach Willi Maurer konnte ich mir erschließen, dass die damit verbundene früh gefühlte Verlassenheit, Traurigkeit und Ohnmacht mich sehr stark geprägt haben. Bis zum heutigen Tag sind diese und andere primäre Erfahrungen Teil meiner Persönlichkeit. Sie beeinflussen unter anderem meine Beziehungsfähigkeit und Erfülltheit, und ich bin auch nach mehr als zehn Jahren noch nicht fertig damit, diese starken Prägungen so in mein Leben zu integrieren, dass ich sie als wertvollen Teil meiner Geschichte annehmen kann. Das Wort „Heilung“ spare ich hier absichtlich aus, da ich der Meinung bin, dass es im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung und Therapie unangebracht ist; es schürt unerfüllbare Erwartungen oder suggeriert, dass ein Zustand erreicht werden kann, in dem Menschen von alten, schmerzhaften Erfahrungen komplett befreit sein werden. Das allerdings habe ich selbst noch nie erlebt und auch noch niemanden getroffen, bei dem ich das im alltäglichen Leben beobachten konnte, weder bei mir noch bei anderen.
Es ist vermutlich realistischer, davon zu sprechen, sich der eigenen Lebensgeschichte – also aller im Zellgedächtnis abgespeicherten Erfahrungen – bewusst zu werden und diese in das eigene Leben zu integrieren.
„Nur wer sich, in seinem eigenen Verletztsein berührt, öffnet, um das Leid vergangener und gegenwärtiger Generationen nachzuempfinden und zu würdigen, kann mit der Vergangenheit Frieden schließen.“ (Maurer, Willi, Der erste Augenblick des Lebens, Klein Jasedow, 2009, S. 295)
Die Epigenetik, die pränatale Psychologie und auch meine Erfahrungen zeigen mir, dass der Mensch, meist unwissentlich, sämtliche Erlebnisse seines Lebens von der Zeugung an zellulär abspeichert. Diese frühen Erfahrungen führen zu Lebenseinstellungen und Verhaltensmustern, die auch noch im Erwachsenenalter wiederholt werden.
„[D]enn die Epigenetik konnte nachweisen, dass die Gene, unsere Erbinformationen, zwar den gesamten Bauplan und die Funktionsweise des Organismus enthalten – aber welche Gene wie zum Ausdruck kommen, ob sie aktiviert oder gehemmt, verlangsamt oder ganz ausgeschaltet werden, darüber entscheiden die Umwelteinflüsse. Diese wirken sich umso stärker aus, je jünger ein menschliches Wesen ist. Von ganz zentraler Bedeutung ist deshalb das Erleben eines Babys während der Schwangerschaft.“ (Renggli, Franz, Das goldene Tor zum Leben, München, 2013, S. 10)
Oder
„Die Zellen des Körpers erinnern sich an Umwelteinflüsse und Lebensstil. Erfahrungen der Eltern und Großeltern sind molekularbiologisch gespeichert ebenso wie Erlebnisse aus der Zeit vor und nach der Geburt.“ (Spork, Peter, Gesundheit ist kein Zufall, München, 2017, Buchumschlag
Anscheinend gab es indigene Kulturen, die bereits seit langer Zeit um den Einfluss von Umwelteinflüssen auf die Entwicklung des Kindes im Mutterleib wussten: „Für die traditionellen Nuucha-nuth beginnt der Einfluss auf das Leben [Anm. d. Übersetzers: eines Menschen] nicht bei der Geburt, sondern in der Gebärmutter. An diesem warmen und dunklen Ort in der Mutter beginnen die Lehren die Identität zu formen.“ (Atleo, Richard E., Tsawalk, Vancouver, 2004, S. 32)
Bereits früh im Leben bilden sich aufgrund frühkindlicher Erfahrungen unbewusste Glaubenssätze, wie zum Beispiel: „Ich bekomme nicht, was ich wirklich brauche“ oder „Ich muss mich anstrengen und viel leisten, um Anerkennung und Wertschätzung zu erhalten“ oder „Es nützt nicht zu sagen, was ich möchte, da sich dafür niemand interessiert“ oder „Ich darf nicht wütend oder ärgerlich sein“. Diese fest verankerten Glaubenssätze wirken so stark, dass sie immer wieder dabei „helfen“, Erfahrungen zu erschaffen, die den Glaubenssatz wieder bestätigen und damit verfestigen.
Meine eigenen ersten Lebenserfahrungen waren durch Einsamkeit und fehlende Nähe geprägt, woraus eine gewisse Unnahbarkeit entstand. Es fiel mir im weiteren Verlauf meines Lebens schwer, Menschen wirklich an mich heranzulassen, weil die schmerzlich vermisste Nähe sich dann hätte „melden“ können. Außerdem bedeutet das Zulassen von Nähe auch das Risiko, diese Nähe wieder zu verlieren.
Mit einer existenziellen Verlassenheit im „Gepäck“ wird also die Nähe zu einer Partnerin eine bedrohliche Annäherung, da der alte Schmerz wieder aufkommen könnte. So erschuf ich immer wieder Beziehungen, in denen echte Nähe nicht möglich war, sondern nur ein Sehnen nach Nähe und Geliebtsein. Warum? Es war der prägende erste Zustand auf dieser Welt. Nur langsam und mithilfe von viel Begleitung erkannte ich, dass ich die Verantwortung für wiederkehrende fehlende Nähe trage. In der Psychologie wird ein solches Verhalten Zweitwahl genannt: Meine erste Wahl war echte Nähe (zu meiner Mutter). Da diese nicht verfügbar war, blieb mir als Ersatzstrategie Rückzug und Unnahbarkeit.
Als ich dieses wenig lebensdienliche Muster erkannte – vor allem indem ich in der Gefühls- und Körperarbeit die dazugehörigen primären Erfahrungen noch einmal durchlebte –, minderte sich die Angst vor echter Nähe und der damit verbundenen Angst vor Verlassenheit. Ich erkannte außerdem, wie lange ich in Beziehungen feststeckte, die mir nicht guttaten und in denen die andere Person mich kaum als Mensch wertschätzte und achtete. Aufgrund meiner Verlustängste hatte ich jedoch zu viel Angst, diese Beziehungen zu beenden. Ich tolerierte lieber eine dysfunktionale Beziehung, weil mir „gar keine Beziehung“ mehr Angst machte als eine Beziehung voller Schmerz.
Gleichzeitig stieg durch meine Therapierfahrung mein Selbstwert, und langsam reifte eine neue Erkenntnis wie eine Frucht heran: „Ich bin es wert, geliebt und gewertschätzt zu werden.“ Ich spürte, dass mein mangelndes Selbstwertgefühl die Grundlage dafür war, mich auch schlecht behandeln zu lassen. Doch irgendwann war ich nicht mehr bereit, das hinzunehmen. Ich beendete die letzte „Sehnsuchts-Beziehung“ und stellte mich meiner Angst vor Verlassenheit. Schön beschrieben hat diesen Integrationsprozess der Psychoanalytiker Dr. Ludwig Janus: „Wenn die Geburt traumatisch war, dann können spätere Trennungen im Spiegel der Urerfahrung erlebt werden, etwa als Verlust, Fall ins Bodenlose, Ausweglosigkeit, Vernichtung, Panik usw. Es ist dann für die Psychotherapie wichtig, diese Zusammenhänge aufzugreifen und durchzuarbeiten, wodurch im guten Falle eine Integration der frühen traumatischen Erfahrungen möglich ist und die Handlungs- und Beziehungsfähigkeit erheblich erweitert werden kann.“
Spannenderweise entdeckte ich sehr bald eine weitere Dimension dieser inneren Prägungen. Bei meiner nächsten Partnerschaft achtete ich sehr darauf, dass meine Partnerin mich wirklich will und schätzt. Als wir zusammenkamen und ich spürte, dass eine strömende Zuneigung und Wärme von ihr zu mir ausging – ich also endlich das bekam, was ich mir gewünscht hatte –, bekam ich unerwartet wieder Angst. Die Erfüllung meiner Sehnsucht, geliebt zu werden, hatte mich mit der oben beschrieben Angst, mich einzulassen, konfrontiert. Die Erfahrung, geliebt zu werden, war so ungewohnt und neu, dass ich fast davon weglaufen wollte. Da ich diesen Prozess glücklicherweise erkannte, blieb ich und teilte meiner neuen Liebe die aufkommenden Ängste mit. Unsere erste gemeinsame Zeit entsprach deshalb nicht ganz dem Stereotyp der rosaroten Phase des Verliebtseins, doch durch das Teilen von Ängsten entstand zwischen uns auch erstaunlich schnell sehr viel Tiefe und Authentizität. Es entstand eine erwachsene Beziehung, in der Raum für aufkommende Gefühle war und daraus eine bewusste Liebe statt eines bloßen Verliebtseins entstehen konnte.
Mit all diesem Wissen und diesen Erfahrungen im Gepäck lag mir also viel daran, dass Zeugung, Schwangerschaft und Geburt unseres Sohnes so gesund wie möglich ablaufen. Daher entschieden meine Frau und ich uns für eine bewusste Zeugung, ein Vater- und Mutterfest, eine Hausgeburt und ein Wochenbett, welches von vielen Menschen des Dorfes getragen wurde und das uns die Möglichkeit gab, uns ganz dem Neuankömmling zu widmen.
„Zum Verständnis eines Babys oder Kleinkindes bei den verschiedenen ursprünglichen Kulturen dieser Welt – sei das in Südamerika, in Afrika oder in Asien – habe ich die gesamte Literatur über die frühe Eltern-Kind-Beziehung bei diesen Völkern durchgelesen. Und bei aller Verschiedenheit ist mir sofort ein gemeinsames Merkmal aufgefallen: Ein Baby weint nie über eine längere Zeit!“ (Renggli, Franz, Verlassenheit und Angst – Nähe und Geborgenheit, Gießen, 2021, S. 22)
Die Geburt ist vermutlich ein ideales Bild für das Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Anpassen und damit für meinen Bezug zum Leben als Jäger und Sammler, welcher sich permanent an die natürlichen Rhythmen, ähnlich Wehen, anpassen muss, um gut zu leben. Eine Geburt ist ein gewaltiges Erlebnis, ein uralter Vorgang, der verbunden ist mit viel instinktiver, weiblicher Kraft. Hier haben wir in unserer naturentfremdeten Welt etwas grundlegend Natürliches und Ursprüngliches!
In Deutschland versucht die Geburtshilfe jedoch meistens, diesen Vorgang zu kontrollieren, zu überwachen und zu standardisieren – und erzielt dabei weitgehend keinen gesundheitlichen Mehrwert für Kinder und Mütter.
„Ein Blick in die Geschichte zeigt deutlich, dass geburtsmedizinische Interventionen in keinem Land und zu keinem Zeitpunkt in der jüngeren oder älteren Vergangenheit zu mehr Sicherheit in der Geburtshilfe beigetragen haben.“ (https://blog.bastian- barucker.de/geburtshilfe-deutschland/)
In seltenen Fällen ist die intensivmedizinische Geburtshilfe von großem, lebenserhaltendem Wert, und man kann wohl allgemein sagen: Solange viele Frauen nicht um ihre natürliche Gebärkompetenz wissen (weil diese ihnen von der Geburtsindustrie genommen wird), finden sie im Krankenhaus eine gewisse emotionale Sicherheit. Nicht zuletzt dank der Unterstützung vieler Freunde und Nachbarn durften meine Frau und ich das Glück eines gemeinsamen familiären Ankommens erleben. Viele Menschen ermöglichten uns den inneren Raum, der nötig ist, um uns von der Begegnung mit dem Säugling berühren zu lassen und sowohl Tränen der Trauer und auch des Glücks zu vergießen. Es war ein kleines Wunder in einem Haus, gelegen an einem See; im Garten eine Gruppe von trommelnden und jubelnden Frauen, die uns von einem Lagerfeuer aus Glück und gute Wünsche schickten. Wenn man es bedenkt, so war dies ein klarer und krasser Gegensatz zu meiner eigenen Geburt – und damit ein kleiner Schritt und eine Perspektive für einen Wandel in dieser Zeit. Der berühmte französische Geburtshelfer Michel Odent hatte gesagt: „Wir können die Welt nicht verändern, ohne die Art und Weise zu ändern, wie Kinder geboren werden.“
Die alte indigene Lebensweise bietet auch Impulse für andere wichtige Elemente unseres gesellschaftlichen Zusammenseins: Übergangsrituale, Initiation von Jugendlichen und Erwachsenen, Männer- und Frauenkreise und ein zyklisches Lebensverständnis. Lassen Sie uns respektvoll und mit Achtung auf Spurensuche nach Dingen gehen, die unser modernes Leben wieder an das große Ganze anbinden können und uns miteinander in Verbundenheit leben lassen. Denn letztlich sind wir Menschen ein Teil der Natur und wie ein Baum auf einer Anhöhe brauchen wir starke Wurzeln, um nicht von den Winden und Stürmen des Lebens entwurzelt zu werden.