Eine Kurzgeschichte von Dorothea Beckmann
Die Klasse 4b der Kopernikus-Grundschule Unterhaching hatte sich – durch Sicherungsseile miteinander verbunden – erwartungsvoll in einer Reihe aufgestellt. Die Fahrt mit dem Flying Fox über die Schöller-Klamm bildete den Höhepunkt der diesjährigen Abschlussfahrt. Tino Brendler, der Klassensprecher, stand am Anfang der Reihe und sollte bei einem entsprechenden Zeichen des Veranstalters den notwendigen Initialsprung wagen und dabei den Rest der Klasse über die Seilrutsche mit sich ziehen. Als im angrenzenden Waldstück der pensionierte Lehrer Xaver Grundinger mit einem markigen „Los!“ seinen Terrier auf Kaninchenjagd schickte, ließ sich Tino in die Tiefe fallen, nicht wissend, dass der Bergführer den Karabiner noch nicht in die Doppelseilrolle eingeklinkt hatte, und riss damit sich selbst und seine 24 Mitschüler in den sicheren Tod.
So hatte es in der Zeitung gestanden. Doch kaum hatte die Anteilnahme an dieser Tragödie die Bevölkerung des ganzen Landes ergreifen können, da sorgte die vorzeitige Sprengung einer Zehn-Zentner-Fliegerbombe in einem Wohngebiet in Lüneburg für weitere 106 sinnlose Todesopfer. Der Sprengmeister hatte wegen hohen Blasendrucks die Verantwortung kurzzeitig an den unerfahrenen Kollegen abgeben müssen, der dann, während die Evakuierung des Viertels noch in vollem Gange war, das vom angrenzenden Sportplatz herübertönende „Los!“ fehlgedeutet hatte. Das Entsetzen in der Bevölkerung war groß gewesen und auch Reinhard hatte die Zeitung am Frühstückstisch zu Vera herübergeschoben und betroffen den Kopf geschüttelt über dies erneute fatale Missverständnis.
In den Tagen darauf hatte in den wöchentlich erscheinenden Print-Magazinen eine Grundsatzdiskussion über Handlungsbefehle und deren Dechiffrierung begonnen, und dann ereigneten sich in kurzer Folge weitere verstörende Unglücke, die in engem Zusammenhang mit einer falsch verstandenen Aufforderung durch den Begriff „Los!“ zu stehen schienen: Teile des Ruhrtals waren irrtümlicherweise geflutet worden, als der Staumeister der Möhnetalsperre das Werbebanner eines Sportflugzeugs zur Neueröffnung einer Fastfoodkette, „Jetzt geht´s los!“, als Arbeitsanweisung aufgefasst hatte, in Frankfurt war es zu einem verheerenden Flugzeugunglück mit Toten und Schwerverletzten gekommen, als der zuständige Lotse, mutmaßlich veranlasst durch ein genuscheltes „Was’n los?“ seines Kollegen, die Startbahn freigegeben hatte, obwohl noch zwei Gepäckwagen dort kurvten, und die komplette Rodung des Naturschutzgebietes Südlicher Schwarzwald mochte wohl auf die Fehlinterpretation der Boulevard-Schlagzeile „Endlich Taten statt Worte – los!“ durch den zuständigen Landrat zurückzuführen sein.
Der unmittelbare Zusammenhang mit der Aufforderung „Los!“ schien offensichtlich und die Regierung stellte in großer Eile einen Expertenrat aus Linguisten und Verhaltensforschern zusammen, der die Ereignisse untersuchen und Handlungsempfehlungen geben sollte. Der Expertenrat sammelte zunächst weitere Daten und stieß dabei auf eine Vielzahl bislang ungeklärter Tragödien, die nun mit dem Begriff „Los“ in Verbindung gebracht werden konnten. Bei fast allen fatalen Unglücken der jüngeren Vergangenheit konnten Zeugen berichten, dass dort zuvor irgendwo das Wort „Los“ gefallen war. Oder dass es dort in mittelbarer Umgebung irgendwo gestanden hatte. Oder zumindest eine Losbude oder eine Loseblattsammlung …
Das Missverstehen oder irrtümliche Auf-sich-Beziehen der Laut- und Buchstabenkombination LOS schien zu einem sich inflationär verbreitenden Phänomen zu werden, dem es mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten galt. Die Bevölkerung musste vor diesen Vorgängen unter allen Umständen geschützt werden. Und so hatte die Regierung unter Berufung auf die unangefochtene Expertenexpertise des Expertenrats eine beispiellose Aufklärungskampagne für die neuen SOS-Regeln gestartet. Man war übereingekommen, dass der Schutz des Einzelnen und der Gesellschaft am ehesten durch eine generelle Einschränkung von Lesen, Hören und Sprechen zu gewährleisten sei. Die einprägsame Buchstabenfolge SOS forderte jeden dazu auf, einen einfachen Sichtschutz (z. B. in Form einer stark getönten Sonnenbrille) sowie Ohrstöpsel zu tragen und weitgehende Schweigsamkeit einzuhalten, was bedeutete, dass nur noch das Notwendigste gesprochen werden sollte. Namhafte Persönlichkeiten aus Medien, Sport und Kultur bekannten auf großformatigen Plakaten: „Ich halte den Mund“ oder „Ich schaue nicht hin“ und versuchten so die Bürger auf die neuen Verhaltenweisen einzuschwören, mit denen man einander vor unbedachten Handlungen schützen wollte. Das Wort „Los“ sollte möglichst nicht mehr ausgesprochen werden, und falls es doch einmal irgendwo zu vernehmen oder zu lesen wäre, sollte es möglichst nicht gehört, gesehen oder irgendwie wahrgenommen werden. Da bedurfte es Sichtschutz – Ohrstöpsel – Schweigsamkeit. Gleichzeitig, so rühmte der Expertenrat die Kampagne, assoziiere die Bevölkerung mit der international geläufigen Abkürzung SOS Not, Gefahr und äußerste Vorsicht – und das konnte in dieser Situation ja nur von Vorteil sein.
Die meisten Menschen im Land sahen die Dringlichkeit dieser Maßnahmen schnell ein. Man konnte ja unmöglich zulassen, dass weitere tausende Unschuldige der gefährlichen Aufforderung „Los!“ zum Opfer fielen. Nein, ein jeder wollte mithelfen bei der Bekämpfung der gefährlichen Killervokabel – und nahm dafür selbstverständlich persönliche Einschränkungen in Kauf.
An vielen Orten der Republik sammelten sich aber kleine Gruppen von Menschen, die sich ob der Dynamik des ganzen Geschehens verwundert die Augen rieben. Sie waren der naiven Ansicht, dass die meisten sprachlichen Missverständnisse mit dem gesunden Menschenverstand zu vermeiden seien, so wie dies seit Anbeginn der Menschheit gut funktioniert habe, sie verdrehten Tatsachen und kolportierten, ein Großteil der durch die Presse gegangenen Unglücke und Katastrophen sei womöglich gar nicht auf das Wörtchen „los“ zurückzuführen. Sie leugneten Zusammenhänge und sprachen von Koinzidenz. Und sie vertraten die egoistische Forderung: „Weg mit den Sonnenbrillen und Ohrstöpseln! Freies Recht auf freie Rede mit allen Wörtern!“
Es wurden auf diesen unsozialen Veranstaltungen aber auch einmal ein ehemals wegen Kanibalismus verurteilter Straftäter und eine Handleserin gesichtet, so dass sich die Medien gezwungen sahen, den Rest der Bevölkerung vor den gefährlichen Umtrieben dieser Menschenfresser und Scharlatane zu warnen.
Reinhard und Vera hatten erst nicht glauben und dann nicht verstehen können, wie es zu alledem hatte kommen können. Doch wenn sie ihrer Tochter gegenüber von Kanonen und Spatzen sprachen oder sich weigerten in deren Wohnung die SOS-Regeln einzuhalten, fragte Pia entsetzt, ob sie jetzt etwa auch zu diesen Menschenfressern und Kristallkugelschwurblern gehörten. Pia reduzierte daraufhin den Kontakt zu ihren unsolidarischen Eltern und brachte ihren eigenen Kindern den von der Regierung geforderten neuen Sprachgebrauch bei: Adjektive mit der Endsilbe tuuut mussten fortan substantiviert werden – „ohne Hilfe“, „ohne Rettung“, „ohne Fassung“, ein tuuut der Fernsehlotterie nannte sich jetzt „Chancy“. Das Wort tuuut sollte aus der gesprochenen wie der Schriftsprache getilgt werden. Zur Erreichung dieses Ziels wurden nicht nur die Schulbücher umgeschrieben, sondern es wurde flächendeckend Sprachschutz-Personal eingesetzt, das Verstöße gegen die neuen Regeln mit Bußgeldern ahndete. Um den Sprachschutz bei seiner Arbeit zu unterstützen, konnte man sich eine App aufs Smartphone laden, die anhand einer Analyse des individuellen Sprachgebrauchs den Nutzer warnte, bevor sich ein tuuut möglichweise in seine Rede einschlich. Und Personen, die einen kannten, der jemanden kannte, der die tödliche Vokabel doch einmal benutzt hatte, wurden zu ihrem eigenen Schutz für sieben Tage in häuslichen Gewahrsam gesetzt.
Natürlich waren das alles noch unbeholfene Versuche, der unübersichtlichen Lage Herr zu werden. Noch immer handelten Menschen kopftuuut – Verzeihung: ohne Kopf –, fuhren bei rot an, versendeten E-Mails, die sie zuvor nicht noch einmal durchgelesen hatten, verkauften Aktien zum falschen Zeitpunkt, ließen sich scheiden oder warfen sich vor einen Zug. Und immer fand sich irgendwo in zeitlicher oder örtlicher Nähe die gefürchtete Killervokabel. Und sei es ein Auto mit dem Kennzeichen Landkreis Oder-Spree – der im Rahmen des 4. Sprachschutzgesetzes natürlich umbenannt werden musste.
Die Verantwortlichen suchten fieberhaft nach einer langfristigen Lösung und wurden fündig bei den Pionieren der minimalinvasiven funktionellen Neurochirurgie. Mittels einer neuen Technologie wurde in hirnchirurgischen Eingriffen die Buchstabenkombination L-O-S deaktiviert – entweder deren Erkennen oder deren Reproduktion. Die Bürger konnten entscheiden, ob sie sich der SSO (Selbstschutz-OP) oder der FSO (Fremdschutz-OP) unterziehen wollten. Mindestens eine dieser OPs wurde anfangs dringend angeraten, dann aufgenötigt und schließlich erpresst. Hatte man nicht mindestens die FSO oder die SSO und die Warn-App, so brauchte man einen zeitlich begrenzten Fremdschutz (FS), also eine vorübergehende Einschränkung von Sprechen und Schreiben, oder einen ebensolchen Selbstschutz (SS), die Einschränkung von Sehen und Hören. Hierzu wurde entweder die Schreibhand zeitweilig fixiert oder örtlich betäubt, ebenso die Zunge oder der Kiefer mittels gepolsterter Kopfklemme oder es erfolgte eine medikamentöse vorübergehende Stilllegung des Hör- und Sehnervs. Diese zeitlich begrenzten Schutzmaßnahmen erschwerten jedoch die Teilnahme am öffentlichen Leben gravierender als dies die operativen Methoden taten. Und bald schon wurde der Schulbesuch, die Ausübung eines Sports oder der Besuch einer kulturellen Veranstaltung sogar an den doppelten Nachweis von FSO und SSO geknüpft.
Die Qualitätsmedien versogten die Bevölkerung mit Fakten. Täglich aktualisierte Datensätze vom Deutschen Sprachrat, vom Katastrophenschutz und aus den neurochirurgischen Operationszentren informierten zeitnah über die Zahl der noch nicht deaktivierten Sprachbenutzer, die Zahl der Schreib- und Sprechverstöße sowie über die Zahl der Opfer, die es aufgrund der Regelverstöße noch immer zu beklagen gab.
Die meisten Menschen im Land hatten Angst. Die einen fürchteten sich davor, der Killervokabel trotz aller Schutzmaßnahmen doch einmal zu begegnen und ihr dann willkürlich ausgeliefert zu sein. Die anderen fürchteten sich davor, mit der Killervokabel die einen zu gefährden. Die dritten fürchteten sich vorm Sprachschutz und seinen Bußgeldern oder vor der Denunziation durch aufmerksame Mitbürger, wieder andere vor den Unannehmlichkeiten von FS und SS oder vor den unabsehbaren Folgen von FSO und SSO. Die Menschen waren so beschäftigt mit der Einhaltung aller Regeln, mit der Organisation eines sanktionsfreien Lebens, mit der Erneuerung gebrauchter Ohrstöpsel und dem Umlernen ihrer Sprache, dass sie den ursprünglichen Grund für diese Geschäftigkeiten ganz vergaßen.
Es ist Abend geworden. Vera und Reinhard sitzen im Garten, zusammen mit Freunden, die sie ein Jahr zuvor noch gar nicht kannten. Da ist Paul, den das Tragen der Ohrstöpsel seinen Beruf als Klavierstimmer gekostet hat, und Wiebke, die mit dem Sichtschutz ihre jungen Klienten nachhaltig verstört, zu denen sie als kinderpsychiatrische Gutachterin ein Vertrauensverhältnis aufbauen soll. Dann Ömer, der nicht versteht, warum er sich zweier OPs unterziehen soll, um weiter im Tischtennisverein spielen zu können.
Man ist einander auf den Veranstaltungen begegnet, auf denen die Frage nach dem Wozu und nach der Verhältnismäßigkeit anfangs noch laut und dann immer leiser gestellt worden war. Aber weil dies die toxischen Fragen von Menschenfressern und Wahrsagerinnen waren, hatten die Medien zuerst diffamierend und dann nicht mehr darüber berichtet.
Vera fragt sich, ob sie das Angebot, das das Leben ihr gemacht hat, vielleicht grundsätzlich missverstanden hat. Das, was Vera einmal Leben genannt hatte, ist eine Groteske geworden.
Die Sprache ist uns abhanden gekommen.
Die Hilfe ist uns abhanden gekommen.
Klirrend kalt steht das Ungesagte zwischen den Verzagten,
die gelernt haben, dem zuzustimmen,
was ihnen den Boden unter den Füßen wegreißt.
Wir treiben vergessen. In eiskalter Nacht.
Und nun ist es Zeit, die Morgendämmerung zieht langsam herauf. Die fünf haben sich entschieden. Sie verlassen den Garten und machen sich auf den Weg zum Marktplatz. Sie sind nicht ganz allein. Auf den Marktplätzen der Republik haben sich für diesen frühen Morgen Menschen verabredet, die bereit sind, sich der völligen Unvernunft bezichtigen zu lassen, um sich ebendie zurückzuerobern: die menschliche Vernunft.
Sie haben keine Angst – nicht vor Bußgeldern, nicht vor dem vernichtenden Medienecho, nicht vor den Sanktionen der Ängstlichen.
Und darum schauen sie jetzt auf ihre Uhren und zählen in Gedanken rückwärts
und atmen noch einmal tief, ganz tief ein.
Reinhard greift nach Veras Hand und dann
sollen es alle hören:
„AUF DIE PLÄTZE – FERTIG – ….“