Die Rechtsanwältin Dr. Franziska Meyer-Hesselbarth hatte Anfang des Jahres 2022 einen Eilantrag wegen der einrichtungsbezogenen Nachweispflicht (§ 20a IfSG) beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Hunderten Mitarbeitern aus dem Gesundheits- und Pflegesektor stand sie ab dem Frühjahr 2022 bezüglich § 20a IfSG als Rechtsanwältin zur Seite. In ihrem Aktenbestand gibt es bis heute noch offene gerichtliche Verfahren mit Tätigkeits- und Betretungsverboten gem. § 20a IfSG, deren Ausgang nun wieder offen sein dürfte. Sie war am 3. September 2024 bei der Verhandlung im Verwaltungsgericht Osnabrück über die sog. einrichtungsbezogene Nachweispflicht als Zuhörerin zugegen. Eine Pflegehelferin, die der Aufforderung zur Vorlage eines Immunitätsnachweises nicht nachgekommen war, hatte nach einem gegen sie mit Wirkung zum 07.11.2022 ausgesprochenen Betätigungsverbot geklagt. Als Zeuge geladen war der amtierende Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lars Schaade. Er wurde insgesamt zwei Stunden befragt und dabei mehrfach mit Textstellen aus den geleakten RKI-Protokollen konfrontiert, die unter anderem am Vorliegen eines relevanten Fremdschutzes durch die Corona-Impfungen zweifeln lassen. Der Schutz vulnerabler Personen war jedoch Grundlage für die vom Bundesverfassungsgericht bejahte Verhältnismäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfnachweispflicht. Das Gericht fasste den Beschluss, die Regelung des § 20a IfSG für den in Rede stehenden Zeitraum 07.11.2022 bis Jahresende 2022 dem Bundesverfassungsgericht zur erneuten Beurteilung vorzulegen. Nach Überzeugung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Osnabrück, die den Fall verhandelte, sei § 20a IfSG sei im Laufe des Jahres 2022 “in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen”, wobei eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich sei. Frau Meyer-Hesselbarth schildert im Folgenden ihre Eindrücke und gibt eine erste Einschätzung zu den möglichen Implikationen der Entscheidung des Osnabrücker Gerichts.


Man kann wohl mit Recht als „Paukenschlag“ bezeichnen, was gestern in Osnabrück geschah: Der Präsident des Verwaltungsgerichts Osnabrück, Herr Prof. Neuhäuser und die Richter der dortigen 3. Kammer vernahmen Lars Schaade, den derzeitigen Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, zu der Frage, ob das RKI immer streng wissenschaftlich gearbeitet oder aber auch auf Weisungen der Politik hin agiert hat. Das Ergebnis der ebenso freundlichen wie kritischen richterlichen Befragung des Zeugen Schaade durch den Vorsitzenden war eindeutig: Die „Wissenschaft“, auf die das RKI sein Pandemie-Management stützte, war maßgeblich von der Politik und von Weisungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) mitbestimmt worden. Mit wenigen Worten des Zeugen Lars Schaade wurde nun zahlreichen Urteilen aus der Pandemiezeit die juristische Grundlage entzogen. Schaade erweckte hierbei nicht den Eindruck, die juristische Tragweite seiner Aussagen zu überblicken. Er war mit einem Zeugenbeistand erschienen – einem Anwalt derselben Kanzlei, die das RKI im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin im Prozess um die geschwärzten RKI-Protokolle vertreten hatte.

Nach dem sogenannten RKI-Leak durch die Journalistin Aya Velazquez, also dem Bekanntwerden der ungeschwärzten Fassung der RKI-Protokolle, war in einigen Presseartikeln versucht worden, die juristische Relevanz der mittlerweile als echt bestätigten Protokolle herunterzuspielen. Es handele sich lediglich um unglückliche Momentaufnahmen, Skandalöses sei darin nicht enthalten. Wer am 03.09.2024 der Befragung von Lars Schaade beiwohnte, musste zwangsläufig den gegenteiligen Eindruck gewinnen.

Bereits die Anberaumung der Beweisaufnahme durch die 3. Kammer machte deutlich: Der Inhalt der RKI-Protokolle ist sehr wohl von juristischer Bedeutung. Es bedarf dringend der Klärung, ob das RKI tatsächlich als eine unabhängige und der Wissenschaft verpflichtete Behörde gearbeitet hat, auf die Gerichte ihre Entscheidungen stützen konnten.

Im ersten Teil ging es zunächst um die juristische Einordnung des Falles und den Anlass der Beweiserhebung. Wer als Jurist den Rechtsausführungen des Verwaltungsgerichts-Präsidenten Prof. Neuhäuser im Termin zuhörte, bemerkte sofort, dass diese an dogmatischer Klarheit und Treffsicherheit nichts zu wünschen übrig ließen. Ein Blick auf die Vita des Verwaltungsgerichtspräsidenten empfiehlt sich.

Geradezu lehrbuchmäßig erfolgte eine rechtliche Einordnung seitens des Gerichts, wobei auch offene rechtliche Aspekte, die künftig noch Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung sein müssen, angesprochen wurden. Konkret geht es dabei um die Frage, ob der Gesetzgeber, wenn ihn laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts eine Beobachtungspflicht trifft, diese im Sinne einer Holschuld bzw. Informationsbeschaffungspflicht wahrzunehmen hat oder ob eigentlich behebbare Informationsdefizite bis auf Weiteres zu Lasten der Grundrechtsträger gehen. Das Verwaltungsgericht Osnabrück vertritt mit guten Gründen die Auffassung, dass die bereits jetzt aktenkundige unzureichende Informationsweitergabe des RKI an die Öffentlichkeit nicht zu Lasten der Bürger bzw. der Grundrechtsträger gehen kann.

Hierfür spricht in der Tat, dass der Gesetzgeber andernfalls dazu eingeladen wäre, beschaffbare Informationen, wann immer es politisch opportun erscheint, erst gar nicht zu erheben und dadurch schwerwiegende Grundrechtseingriffe ohne sachliche Notwendigkeit weiter auszudehnen als eigentlich gerechtfertigt. Daher stellte sich aus Sicht des Verwaltungsgerichts Osnabrück die Frage: Was wusste das RKI tatsächlich und wie hat es diese gewonnenen Erkenntnisse kommuniziert? Wurden aufgrund politischer Weisungen bzw. politischer Einflussnahme vom RKI Einschätzungen nach außen kommuniziert, die nicht der internen fachlich-wissenschaftlichen Beurteilung des RKI entsprachen?

In minutiöser Genauigkeit befragte der Kammervorsitzende und Präsident des Verwaltungsgerichts Osnabrück den Zeugen Schaade erst zu den Aufgaben und der Stellung des RKI allgemein, dann zur Kommunikation zwischen RKI und Bundesgesundheitsministerium (BMG) und schließlich zu den konkreten Inhalten zahlreicher Protokolle, die jeweils auszugsweise verlesen wurden. Er betonte mehrmals, dass auch seine Kammer bis vor Kurzem noch vergleichbare Klagen gegen Tätigkeitsverbote abgewiesen hätte. Dem Vorsitzenden war anzumerken, dass der Inhalt der RKI-Protokolle die Richter seiner Kammer nicht nur nachdenklich gestimmt hatte, sondern dass er einem ganz konkreten Verdacht nachging – nämlich dem, dass das RKI mit seinen öffentlich getätigten Aussagen weite Teile der Justiz „verschaukelt“ und eben nicht entsprechend seinem eigentlichen Wissensstand informiert hatte.

Lars Schaade räumte mehrmals deutlich und unumwunden ein, dass das RKI politischen Weisungen und Wünschen entsprochen habe. Diese stellten sich unter anderem als Ausübung der Fachaufsicht dar, der das RKI unterliege. Fast schon entschuldigend fügte er hinzu, dass derartige Weisungen auch fachlich begründet sein könnten – die Betonung lag dabei auf dem Konjunktiv. Allen im Raum war allerdings klar, dass es fachliche Begründungen in der Pandemiesituation nicht gegeben hatte, denn solche Fachkenntnisse hätte man zuvor extra vom RKI erfragen müssen.

Als Lars Schaade wiederholt versuchte, wichtige und inhaltlich kritisch zu sehende Protokollinhalte als Einzelmeinung von Mitarbeitern seines Instituts darzustellen, hakte der Vorsitzende sehr zur Erheiterung des Publikums nach. Er fragte, ob der Zeuge wirklich dem Gericht weismachen wolle, dass die betreffende Passage von einer Mitarbeiterin stamme, die zuvor draußen auf der Toilette etwas geraucht hatte.

Immer wieder betonte der vorsitzende Richter Prof. Neuhäuser, dass er konkrete Rechtsfragen zu klären hätte und kein Corona-Tribunal abhalten werde. Auch äußerte er gegenüber dem Zeugen Schaade mehrfach, dass es nicht um irgendeine persönliche Verantwortung gehe, sondern um die Aufklärung des Sachverhalts. Mehrere Zuhörer mit Hintergrundwissen hatten zu Beginn der Beweisaufnahme noch Zweifel, ob tatsächlich eine ernsthafte und kritische Befragung des RKI-Präsidenten stattfinden würde. Bereits nach einem Teil der Befragung des Zeugen Schaade war jedoch klar: Ja, das ist eine ernsthaft um Sachverhaltsaufklärung bemühte kritische Befragung des Zeugen, keine Alibi-Veranstaltung, aus der jener mit einfachen Ausreden ohne kritisches Nachhaken entlassen werden würde.

Im Laufe der Befragung wurde auch deutlich, dass entsprechend kritische Stellen in den Protokollen des RKI sich in ähnlicher Form und zu verschiedene Zeitpunkten wiederholen. Die Annahme von unglücklich aus ihrem damaligen Kontext gerissenen und somit ggf. missverständlichen Textstellen wurde für jeden mitdenkenden Zuhörer allein durch die Vielzahl der vom Vorsitzenden in die Befragung eingebrachten Fundstellen aus den RKI-Protokollen widerlegt.

Einzelne „kritische“ Stellen sind vielleicht missverständlich formuliert oder nur aus dem Kontext heraus zu verstehen, der nicht immer vollständig festgehalten worden ist. Im Kern jedoch stellte das Verwaltungsgericht Osnabrück fest, dass die Wissenschaft des RKI nicht die „Wissenschaft“ war, von der die Justiz meinte, dass das RKI sie entsprechend seinem gesetzlichen Auftrag in § 4 IfSG betrieben hat.

Ein Teil der Vernehmung bleibt in besonders deutlicher Erinnerung, denn zentraler Bezugspunkt zahlreicher gerichtlicher Entscheidungen auch jenseits des § 20a IfSG war die Risikoeinstufung des RKI. Das Verwaltungsgericht Osnabrück fragte Lars Schaade unter Hinweis auf Protokollpassagen, ob diese Einschätzungen auf politischer Einflussnahme beruhten. Schaade hatte während seiner Vernehmung zuvor schon wiederholt die Begriffe „Management-Größe“ bzw. „Management-Papier“ verwendet, wobei der Begriff „Management“ offenbar synonym für politische bzw. ministerielle Weisungen und Wünsche stand. Auch in Bezug auf die Risikoeinstufungen des RKI zur Gefahr durch das SARS-CoV2-Virus sprach der Zeuge Schaade davon, dass diese zum „Management-Bereich“ gehört hätten, mit anderen Worten: zum Bereich der nicht wissenschaftlichen Arbeit des RKI, der einer politischen Einflussnahme unterworfen war. Dies war der Moment, in dem fast alle Zuhörer im Saal einmal tief Luft holen mussten, weil sie ihren Ohren kaum trauten. Aber doch: Lars Schaade hatte gerade eben mit wenigen Worten die Grundlage der Gerichte zur Rechtfertigung der tiefgreifenden Pandemie-Einschränkungen zum Einsturz gebracht.

Der anwesende Vertreter des beklagten Landkreises, Herr Dr. Drewes, bat kurz vor Verhandlungsende um das Wort. Er bedauerte ausdrücklich, dass man seinerzeit „die Vorschrift [habe] anwenden” müssen. „Wenn ich mit meinen Herzen entscheiden dürfte, würde ich den Bescheid [über das Betretungs- und Tätigkeitsverbot] aufheben. Aber das kann ich nicht.“

Am Ende des Tages war klar: Gerichte hätten im Zuge ihrer Pandemie-Rechtsprechung die Stellungnahmen des RKI nicht einfach als sachverständige Auskünfte verwenden dürfen. Das RKI war und ist politischen Weisungen unterworfen und daher nicht neutral.

Juristen wie der Staatsrechtler Prof. Ulrich Battis der kürzlich argumentiert hatte, bei den tiefgreifenden und sogar existenzbedrohenden Grundrechtseingriffen während der Pandemie habe das Bundesverfassungsgericht gut daran getan, nicht ganz genau hinzusehen, reden einer Erosion des Grundrechtsschutzes sowie der Gewaltenteilung das Wort. Dem hat das Verwaltungsgericht Osnabrück nun eine klare Absage erteilt. Die letzten Worte des Vorsitzenden zur Begründung des Vorlagebeschlusses bleiben in Erinnerung, da sie treffender nicht sein können: Wenn schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen innerhalb von drei bis vier Tagen beschlossen und juristisch umgesetzt werden können, dann gibt es spiegelbildlich eine Verpflichtung des Gesetzgebers, inhaltlich und zeitlich engmaschig die fortbestehende Berechtigung für diese Grundrechtseingriffe zu hinterfragen und bei einer Änderung der Sachlage durch Aufhebung der eingreifenden Regelung zu berücksichtigen.

Dass ungeimpfte Mitarbeiter im Gesundheitswesen ihrer Tätigkeit Ende des Jahres 2022 nicht nachgehen konnten, obwohl der Bundesgesundheitsminister Lauterbach am 24. November 2022 sogar öffentlich verkündet hatte, dass die Corona-Impfungen nicht mehr vor einer Übertragung schützen war aus juristischer Sicht ein Skandal. Statt unverzüglich § 20a IfSG aufzuheben, beließ man es aber noch wochenlang bei diesem offensichtlich unhaltbaren Rechtszustand, bis am Jahresende 2022 § 20a IfSG schließlich von selbst außer Kraft trat.

Etwas höflicher in der juristischen Terminologie ausgedrückt: Das Verwaltungsgericht Osnabrück ist davon überzeugt, dass § 20a IfSG spätestens am 07.11.2022 verfassungswidrig war. Jetzt werden die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe aufgrund des gefassten Vorlagebeschlusses darüber zu befinden haben, ob ein Auslaufenlassen des § 20a IfSG gegen die Grundrechte der Mitarbeiter im Pflege- und Gesundheitssektor verstieß.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wurde am 4. September 2024 zur Einflussnahme der Politik auf das RKI auf einer Pressekonferenz befragt und er äußerte sich so: „Sie haben also von einer Weisung gesprochen. Eine Weisung hat es in dem Sinne nicht gegeben …“

Man kann dem Bundesgesundheitsminister nur beipflichten: Es war nicht eine Weisung, es waren ganz offensichtlich zahlreiche Weisungen. Lauterbach beantwortete 2019 die Frage was falsch daran sei, die Wahrheit zu sagen, wie folgt: „Die Wahrheit führt in vielen Fällen zum politischen Tod“. Das erklärt alles.

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